Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
gegangen war? Nein, ganz bestimmt nicht! Aber da meinte sie etwas zu entdecken, das der Weg sein mußte…
Hilde machte ein paar Schritte und stolperte über etwas Weiches, das nachgab. Ein moosbewachsener Baumstumpf?
Sie hatte das Gleichgewicht verloren und mußte sich mit der Hand abstützen. Aber das war doch kein Stubben? Das war ein Mensch!
Hilde hielt den Atem an und tastete über einen großen, warmen Körper. Dicke Filzkleidung… Bartstoppeln… Er atmete. Sie schüttelte ihn, aber er knurrte nur auf wie in Schlaf.
Er roch nach Bier. Die Männer hatten sich doch nicht etwa an dem Bier betrunken, während sie warteten? Nein, das war undenkbar.
Sie rüttelte ihn wieder, aber inzwischen schnarchte er leise, ein tiefer, schwerer Schlaf…
Hilde erhob sich, steif vor Schreck und Mißtrauen. Und wenn in dem Bier etwas drin gewesen war? Ein Schlafpulver? Dann war sie wirklich alleine im Wald!
Dann hatten alle Männer davon getrunken. Dann war sie den ganzen Weg ohne den geringsten Schutz gegangen. Und der Rückweg war noch lang.
Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Männer an der Kirche oder am Weg nach Elistrand an dem Biergelage teilgenommen hatten. Sie waren zu weit entfernt. Aber Andreas? Lag er oben bei der Waldkate und schlief?
Sie merkte plötzlich, daß sich ihre Hand so fest in das Umschlagtuch unter dem Kinn gekrallt hatte, daß es ihr fast die Luft abschnürte.
Sie mußte fort von hier! Nach Hause! Hier hatte sie keine Hilfe zu erwarten.
Wie von Sinnen zwängte sie sich durch das Dickicht und stand wieder auf dem Pfad. Jedenfalls glaubte sie, daß es der Pfad war. Ja, es war ein langer, schmaler, etwas hellerer Streifen. Das mußte der Pfad sein.
Sie war kaum ein paar eilige Schritte gegangen, als sie einen eiskalten Stich im Herzen spürte. Auf dem Weg kam ihr etwas entgegen.
Das Messer? Sie tastete danach, aber schon während sie das tat fiel ihr ein, daß sie sein Gewicht auf ihrem ganzen bisherigen Weg nicht gespürt hatte.
Es lag auf ihrem Nachttisch daheim auf Elistrand! Sie erinnerte sich jetzt, daß sie es dort einen Moment abgelegt hatte, als sie den Rock fester band. Und dort hatte sie es vergessen.
Sie blieb bewegungslos stehen, wußte nicht, was sie tun sollte.
Das tappende Geräusch großer Pfoten. Keuchender Atem in der Dunkelheit, näher, immer näher… Hilde schrie. Sie schrie und schrie, während sie kopflos zurückrannte in Richtung Waldkate, hinaus, nur hinaus aus dem Wald…
Jetzt kam ihr das ehemalige Zuhause wie ein sicherer Hafen vor. Wenn sie nur erst durch die Haustür wäre, sie hinter sich zuschlagen könnte…
Sie hörte das Tier hinter sich, es versperrte den Weg zum Dorf, aber noch war es weit hinter ihr. Doch es konnte natürlich viel schneller laufen als sie - wenn es wollte. Hilde war außer sich vor Angst. Sie warf sich vorwärts, brach alle Hindernisse nieder… Hindernisse? Es sollten doch keine Hindernisse auf dem Pfad sein?
Gütiger Gott, sie hatte den Pfad schon wieder verloren! Nun, sie hatte keine Zeit zu verschenken, ihr blieb nichts anderes übrig als einfach weiterzurennen. Das Umschlagtuch verhakte sich an einem Ast, und sie zuckte zusammen, als sie das Geräusch des zerreißenden Stoffes hörte. Sie mühte sich, das zerfetzte Tuch loszubekommen. Der halbe Ast blieb daran hängen, und sie konnte ihn nicht abschütteln.
Sie schrie immer noch -falls jemand wach genug sein sollte, sie zu hören und sich aufzurappeln.
Aber es war kein Laut zu hören, nur der keuchende Atem und das Tapsen des Untiers, das sie verfolgte. Warum machte es nicht kurzen Prozeß mit ihr? Hatte es einen besonderen Spaß daran, sie müde zu jagen? Sie lief in die Richtung, die sie für die richtige hielt - hinauf zur Waldkate. Aber obwohl sie dieses Waldstück eigentlich gut kannte, war es jetzt wie verwandelt. Die Bäume hatten Fangarme, die nach ihr griffen, die Feldsteine waren moosbewachsene Trolle, die sich niederhockten. Da brach der Mond hervor, bleich und von Wolken verschleiert. Unwillkürlich warf sie einen Blick zurück.
Da kam es, zwischen den Stämmen, das Biest. Groß und schwer und grauschwarz, mit angelegten Ohren und offenem Maul. Die Zunge war ein hellerer Fleck in der Dunkelheit. Unbeholfen humpelte es auf seinen drei Beinen vorwärts.
Hilde schrie vor irrsinniger Furcht. Sie meinte noch einen weiteren Schrei zu hören, war sich aber nicht sicher. Sie hätte inzwischen bei der Kate angekommen sein müssen - aber das war sie nicht. Sie
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