Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
ihrer strengen religiösen und moralischen Erziehung verfügte Anette über Humor und Spontaneität. »Aber ich werde dir doch nicht deine Rechte verweigern! Das ist nie meine Absicht gewesen.«
»Das weiß ich.« Er strich ihr zärtlich über die Wange. »Wir müssen uns nur ein bißchen Zeit lassen. Um ehrlich zu sein, ich hätte nichts dagegen. Fünf Jahre im Zölibat ist eine lange Zeit.
»Du kannst zu mir kommen, wann immer du willst.« Es klang feierlich, aber ihre bebende Unterlippe verriet ihm, was dieses Versprochen sie kostete.
»Danke. Es ist noch zu früh. Ich möchte gerne, daß es unser beider Wunsch ist.« »Nun ja, ich könnte… « »Warum unterbrichst du dich selbst?«
Ihr kleines Spitzentaschentuch war bereits völlig zerdrückt.
»Ich habe an Dominic gedacht. Ihr könnt natürlich das Zimmer tauschen, aber wenn er nun aufwacht und hereinkommt? Das wäre ja entsetzlich!«
Also weißt du Anette, dachte er resigniert, schließlich sollen wir ein ganzes Leben lang zusammenleben! »Hat er hier keine Spielkameraden?«
»Früher hat er mit Tante Marcas Sohn auf Mörby gespielt, der genauso alt war wie er. Aber der lebt ja nicht mehr. Ach, das war so traurig, ich komme gar nicht darüber hinweg!«
»Das verstehe ich gut«, antwortete er weich. »Was ist mit dem ältesten Jungen? Können die beiden nicht zusammen spielen?«
»Ja-a, Dominic könnte dort sicher ein paar Tage wohnen. Später«, fügte sie schnell hinzu.
»Ja, später. Denn eins ist mir klar geworden: Ist man unsicher, ob man etwas tun sollte oder nicht, bedeutet das in der Regel, daß man es nicht tun sollte. Und, Anette… ich möchte nicht, daß du es als Aufopferung ansiehst.« »Das darfst du nicht denken! Ich bin bereit, dir entgegenzukommen.«
Aus Pflicht oder Lust? fragte er sich, wollte ihr jedoch weitere peinliche Fragen ersparen. Aber er hatte das trostlose Gefühl, daß sie ausschließlich von Pflichtgefühlen getrieben wurde. Stocksteif saß sie da, mit einem ergebenen, fast verzweifelten Ausdruck in den Augen. »Eigentlich bis du richtig schön, Anette«, sagte er ganz verwundert. »In der milden Abendsonne bekommt dein Gesicht ganz weiche Konturen.«
»Nein, ich bin nicht schön. Das weiß ich. Das haben sie auch gesagt.« »Wer hat das gesagt?«
»Ach, irgend jemand. Ich weiß nicht mehr, wer das war. Als ich noch ganz jung war.«
Mikael lächelte bitter. »Wenn neunundneunzig Menschen behaupten, du bist schön, und ein einziger sagt das Gegenteil, so glaubst du dem einen. Seine Worte kannst du nicht vergessen.«
»Doch ja, das ist wohl wahr«, sagte sie unsicher. »Findest du, daß ich sonst ein hartes Gesicht habe?« »Nicht gerade hart. Verkniffen.« »Igitt! Ich werde daran denken.«
Er stand vom Sofa auf. »Ich bin wieder gesund, Anette, und kann nicht mehr hier zu Hause herumhängen. Ich muß irgend etwas tun.«
»Aber du bist mir eine so große Hilfe! Im Garten, im Haus, überall.«
»Ja, aber das sind nur so Kleinigkeiten. Alles, was ich gelernt habe, ist der Offiziersberuf, und Offizier will ich nicht mehr sein«!
»Du könntest ja auf die Jagd gehen.« Ihr Vorschlag klang sehr vage.
Er zog eine Grimasse. »Ich bin kein Jäger. Ein Jäger ist nichts anderes als ein Mensch, der gerne lebende Wesen tötet. Nein, früher habe ich ja mal ein wenig studiert.
Mehr als ein Anfang war es nicht. Aber ich könnte meine Studien ja fortsetzen, wenn ich Veranlagung dazu habe. Ich brauche einen Beruf, Anette. Ein Mensch muß wissen, daß er etwas kann, daß er sich auf ein Gebiet versteht. Wenn ich nur wüßte, welches!«
Sie sah ihn fragend an. »Jetzt hast du wieder diesen abwesenden Blick in den Augen. Der macht mir angst, du bist so weit weg.«
»Ja«, sagte er träumend. »Vielleicht bin ich doch noch nicht ganz gesund.«
»Aber es geht dir viel besser«, tröstete sie ihn und sich selbst. »O, Dominic ruft mich. Entschuldige bitte, ich muß los…«
Eilig ging sie hinaus, vielleicht dankbar, daß sie einen Grund gefunden hatte?
Mikael hörte sie kaum noch. Er ging zum Fenster und sah hinaus.
Wieder kam dieses Unverständliche über ihn. Die Landschaft vor seinen träumenden Augen verschwand und eine unendliche, nebelhafte Leere umgab ihn. Ferne Rufe erreichten ihn. Hohle Rufe klagender Stimmen. Und weit, weit weg ahnte er mehr als daß er es sah in all dem weißen Nebel ein dunkles Leuchten. Dieses Dunkel kam jedesmal etwas näher.
Irgendwann würde es sich vielleicht offenbaren. Ein heftiger
Weitere Kostenlose Bücher