Die Saga vom Eisvolk 09 - Der Einsame
gemeinsam über den Tod der beiden Kleinen weinen. Ihr Kummer darüber, daß sie in deren letzter Stunde nicht hatte bei ihnen sein können, war unerträglich. Sie meinte, nicht schnell genug nach Hause kommen zu können, um es an ihrem Ältesten, dem Neunjährigen, wieder gutzumachen. Gabriel Oxenstierna begleitete sie auf dem Heimweg. Er konnte den Schmerz über den Verlust der zwei Söhne besser verstecken als seine Frau, aber er fühlte ihn genauso wie sie. Er war zum Reichsmarschall ernannt worden und wollte nach Hause, um seine neue Stellung anzutreten, anstatt an dem hoffnungslosen Wirrwarr in Polen teilzunehmen. Außerdem dachte er viel an seinen Pflegesohn Mikael. Ihm gefielen die Berichte von daheim nicht, er verstand sie nicht. War der Junge feige? Oder fahnenflüchtig? Oder hatte er wirklich einen derartigen Schaden davongetragen, wie Anette es Marca Christiana mitgeteilt hatte? Er mußte sich das selber ansehen.
Es war nicht leicht zu sagen, wie lange diese äußerst rücksichtsvolle Ehe zwischen Mikael und Anette noch angehalten hatte, wäre nicht Gabriel Oxenstierna nach Hause gekommen.
Nachdem er seinen Pflegesohn zwei Monate in aller Ruhe beobachtet hatte, nahm er ihn sich unter vier Augen vor. »Wann willst du eigentlich wieder deinen Dienst antreten?«
Mikael schlug die Augen nieder. »Ich weiß nicht. Am liebsten gar nicht.«
Dem hohen Beamten und Offizier schoß das Blut ins Gesicht. »Nicht? Am liebsten nicht? Was ist mit dir los? Bist du ein Feigling?«
Feigling, dachte Mikael bitter. Ist man ein Feigling, wenn man anderen zuliebe vier Jahre lang die Hölle ertragen hat? Ja, vielleicht ist das Feigheit?!
»Nein, Onkel Gabriel. Ich bin krank, sehr krank.« »Der Arzt sagt etwas anderes.«
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Anscheinend kann ich nicht unter Menschen leben. Hab' es nie gekonnt, aber jetzt ist es schlimmer denn je. Mehr und mehr packt mich eine Leere, die mich langsam verschlingt.« Graf Oxenstierna starrte ihn eine Weile forschend an. »Unsinn! Komm mir nicht mit solchen Flausen. Du bist Hauptmann, was du hauptsächlich meinem Einfluß zu verdanken hast, und drehst hier einfach nur Däumchen! Natürlich hältst du den Hof ausgezeichnet instand, aber das ist nicht genug für einen Offizier Seiner Majestät. König Karl Gustav hat wieder nach mir geschickt. Jetzt geht es gegen die Dänen, die Angst davor haben, er wolle erst die deutschen Staaten und dann Dänemark einnehmen. Frederik III. hat Schweden den Krieg erklärt.« In Wirklichkeit war Karl X. Gustav entzückt darüber, ohne das Gesicht zu verlieren Polen verlassen zu können, das für ihn immer schwerer zu halten war. Oder wie er es ausdrückte: Dieses elende Land ist ja derart vom Krieg verwüstet, daß meine Truppen hier nichts mehr zu fressen finden!
Gabriel Oxenstierna fuhr fort: »Seine Majestät will mich zur Seite haben, und wenn der König ruft, dann komme ich. Aber jetzt will ich dich dabei haben. Du wirst die ganze Zeit bei mir bleiben, damit ich dich im Auge behalten kann. Wir und die prächtigen Soldaten Seiner Majestät werden deine Schwermut schon vertreiben!« Schwermut? Das Wort ließ Mikael erschauern. Wo hatte er es nur zuletzt gehört? Ein Greis in einem Dorf in Livland. Schneewetter. Kalte Füße in Stiefeln. Rauch, der senkrecht aufstieg. Ein Grabstein in einer verlassenen Kirche … ›Die Toten sind nicht gut…‹
»Nach ein paar Gefechten wirst du dich besser fühlen«, sagte Oxenstierna jovial. »Das Soldatenleben hat schon aus manchem Schwächling einen Mann gemacht.« Er sah die ganze Sache nur aus seiner Sicht. In seiner Familie waren alle Männer Offiziere gewesen. Für Mikael gab es solche ererbten Traditionen nicht.
Vielleicht war ihm dieser Weg ja vorherbestimmt. Was half es, sich dagegen zu sträuben? Das Soldatenleben umschloß ihn mit fester Hand und saugte ihn völlig auf. Es war nutzlos, sich irgendwo festzuhalten. Irgendwann würde er loslassen müssen. In bitterer Resignation nickte er und versprach zu gehorchen. Welche Rolle spielte es denn schon? Anderthalb Jahre war er zu Hause gewesen - und weder hatte sich etwas geändert, noch hatte er seinen Platz im Leben gefunden.
Am letzten Abend vor seiner Abreise geschah das, was er so lange befürchtet hatte: Anette erlebte eine seiner Krisen.
Der Abend hatte so wunderbar begonnen. Aufgeregt wegen seiner bevorstehenden Reise, waren sie an dem Abend länger aufgeblieben als gewöhnlich. Plötzlich sagte Mikael: »Jetzt habe
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