Die Saga von Thale 02 - Die Macht des Elfenfeuers
begleitete das Leben in der Festungsstadt wie die düstere Litanei einer ungewissen Zukunft. Auf allen freien Plätzen sah man Männer und Frauen, die im Umgang mit Schwert und Bogen unterrichtet wurden. Wer keine Waffe tragen konnte, wurde für die Arbeiten an und auf den Festungsmauern herangezogen. Selbst die Kinder taten es den Erwachsenen gleich, indem sie in ihrer unbekümmerten Art mit Holzschwertern einen heldenhaften Kampf gegen grauenhafte Schartenwesen ausfochten.
Riesige Mengen an Nahrungsmitteln, die eilig aus dem Umland herbeigeschafft wurden, passierten das große Flügeltor inmitten des unablässigen Stroms von Flüchtlingen, die zu tausenden hinter den dicken Mauern Schutz suchten.
»Ich hätte niemals gedacht, dass es so viele werden.« Beunruhigt ließ die Priesterinnenmutter den Blick über die Ebene streifen, wo sich das dunkle Band des Flüchtlingsstroms in den Nebeln verlor.
»Ich hoffe nur, dass wir ausreichend Lebensmittel einlagern können, bevor die Tore geschlossen werden.«
»Mit dem Vorhandenen werden wir ein oder zwei Mondläufe auskommen«, erwiderte der Abner, der neben der Priesterinnenmutter auf den Zinnen über dem großen Tor stand und den Strom der Neuankömmlinge beobachtete. »Aber wo sollen wir die vielen Menschen unterbringen? Schon jetzt sind alle Unterkünfte überfüllt. Wenn es so weitergeht, müssen die Menschen unter freiem Himmel in den Straßen lagern. Ein Gedanke, der mir überhaupt nicht gefällt.«
»Ihr habt Recht.« Die Priesterinnenmutter nickte. »Es wird immer kälter und . . . «
»Das Wetter schert mich weniger«, mischte sich Enron, der Befehlshaber der Stadtwache, in das Gespräch ein. Der stämmige Krieger kam gerade die Stufen herauf und hatte das Gespräch der beiden mit angehört. Besorgt deutete er auf den unbebauten Platz hinter den Festungsmauern, auf dem sich unzählige Menschen drängten. »Ich frage mich nur, wie während des Angriffs der Nachschub auf die Zinnen geschafft werden soll. Da unten ist einfach kein Durchkommen.«
»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, sagte der Abner. »Alle, die nicht kämpfen oder für die Versorgung der Verwundeten benötigt werden, dürfen sich im Fall eines Angriffs nicht mehr hier aufhalten. Deshalb werden wir die Tore der Inneren Festung öffnen und den Menschen Einlass gewähren, wenn es so weit ist.«
»Alle diese Menschen! « Enron trat neben den Abner, strich sich mit der Hand über den krausen, von grauen Strähnen durchzogenen Bart und starrte kopfschüttelnd auf die Ebene. »Wenn die Tore nicht standhalten, wird Nimrod im Blut ertrinken.«
»Die Tore werden halten«, erklärte der Abner überzeugt. »Die Menschen kommen hierher, weil sie sich hinter den Mauern sicher fühlen. Nimrod ist für sie . . . «
» ... eine Falle, aus der es kein Entrinnen gibt, wenn wir versagen. « Enron schlug mit der Faust gegen die Mauer und spie auf den Boden. »An der Grenze zur Finstermark habe ich einmal gegen Cha-Gurrline gekämpft«, berichtete er grimmig. »Zwanzig Krieger der Grenzgarnison waren wir, als wir auf sechs Cha-Gurrline stießen, die im Grasland Steppenbüffel jagten. Wir haben sie vertrieben, aber nur fünf von uns kehrten in die Garnison zurück.« Er schüttelte erneut den Kopf.
»Wenn Ihr meine Meinung hören wollt: Mit Frauen und Halbwüchsigen, die gerade eben einen Speer halten können, ist die Aussicht zu überleben verschwindend gering.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte er die Stufen hinab und verschwand in der Menge.
»Ich kann nur hoffen, dass Enron seine Meinung für sich behält.« Die Priesterinnenmutter blickte dem Befehlshaber der Stadtwache kopfschüttelnd nach. »Die Menschen dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Panik und Verzweiflung würden uns nur Schaden zufügen.«
»Enron ist weithin für seine Schwarzseherei bekannt«, erklärte der Abner. »Aber er ist ein erfahrener Kommandant und wird seine Meinung den Kriegern gegenüber nicht hinausposaunen.« Er verstummte und ließ den Blick nachdenklich über die Ebene schweifen.
»Trotzdem hat er nicht ganz Unrecht. Sollte das Tor fallen, gibt es keine Fluchtmöglichkeit. Außer... «
» ... durch die alten Gänge und Stollen unter der Festungsstadt.« Die Priesterinnenmutter fasste sich mit der Hand an die Stirn. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Ich bis eben auch nicht«, gab der Abner zu. »Der Stollen wurde nie benutzt und vor über hundert Sommern durch ein magisches Tor
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