Die Sakristei Des Todes
jetzt kann ich mich nicht mehr
erinnern, Pater Prior. Es ist wichtig - aber ich kann mich nicht
mehr erinnern!«
Anselm ließ das Handgelenk des Armen
los. »Denk eine Weile nach«, sagte er, »und dann kommst du
wieder.«
Der Subsakristan floh wie ein
verängstigtes Karnickel. »Der Mann ist ein Idiot!« zischte der
Großinquisitor. »Nein, Master William, er ist ein Kind Gottes, das
vor Angst von Sinnen ist. Und Gott weiß: In diesem Kloster gibt es
etwas Beängstigendes, Dunkles und Unheimliches.« Mit diesen Worten
nickte Anselm den beiden zu und spazierte hinaus.
*
Prior Anselms Ahnungen erwiesen sich
als zutreffend. Am selben Nachmittag, als die Vesper gesungen war
und die Brüder sich entweder in ihre Zellen zurückgezogen hatten
oder in der Kühle des vom Kreuzgang umspannten Gartens
spazierengingen, kehrte Bruder Callixtus in die Bibliothek und das
Scriptorium zurück.
Gegen die Vorschrift zündete er die
hohen Kerzen wieder an, damit er seine Suche fortsetzen konnte.
Callixtus war eines der belesensten Mitglieder des
Dominikaner-Ordens und stolz auf sein wunderbares Gedächtnis. Er
interessierte sich für die Debatte des Generalkapitels und wollte
sich einen Namen machen. Er vergewisserte sich, daß die Tür des
Scriptoriums geschlossen war, bevor er aufmerksam die Regale
studierte, die bis zur Decke reichten. Sie enthielten lederne
Bücher, in die die Abhandlungen und Schriften der Kirchenväter
sorgfältig gebunden waren. Im Laufe des Tages hatte Callixtus die
unteren Regale durchsucht, aber jetzt wollte er seine Arbeit
vollenden; schließlich ging es darum, das Manuskript zu finden, in
dem stand, was er brauchte. Callixtus hatte sich Alcuin gegenüber
damit gebrüstet, daß er das könne; allerdings hatte er sich auf die
Frage nach weiteren Einzelheiten nur an die lange, knochige Nase
getippt. Er würde diesen Theologen zeigen, daß es nichts Neues gab
unter der Sonne und daß die größten Gelehrten die Bücherliebhaber
waren.
Callixtus zündete noch ein paar
Kerzen an und starrte die Regale an, die turmhoch vor ihm
aufragten. Er schob die lange Leiter an die gewünschte Stelle und
kletterte vorsichtig hinauf, eine Kerze fest in der Hand. Er
betrachtete die goldenen Lettern auf dem Rücken eines Buches, die
ein früherer Bibliothekar darauf geprägt
hatte:
Briefe, Bücher und Dokumente des
Apostolischen Zeitalters. Callixtus grinste
und schüttelte den Kopf. Aufmerksam studierte er die anderen. Da
hörte er unter sich ein Geräusch. Erschrocken schaute er
hinunter.
»Wer ist da?« rief er
leise.
Gewiß würde keiner der Brüder
hereinkommen, dachte er. Diejenigen, die im Scriptorium arbeiteten,
waren jetzt müde; ihre Augen brannten, ihre Finger waren
verkrampft, und sie würden nur allzugern die Abendsonne genießen.
Callixtus setzte seine fieberhafte Suche fort. Er mußte diesen Band
finden, bevor Athelstan kam. Nichts blieb hier lange geheim, und
nach dem Abendbrot war der Klatsch wie ein Wildfeuer auf einem
trockenen Stoppelfeld durch das Kloster gerast: Athelstan, das
schwarze Schaf der Familie, kehrte in den Pferch zurück!
Callixtus hatte nichts gegen
Athelstan. Soweit es einem Mann wie ihm möglich war, mochte, ja
respektierte er den asketischen und doch humorvollen
Gemeindepriester der Armen. Aber er wollte doch nicht, daß
Athelstan den ganzen Ruhm einstrich.
Ein Buch fiel ihm ins Auge. Er hielt
die Kerze fest und streckte die Hand aus, um danach zu greifen, als
die Leiter plötzlich heftig umgedreht wurde. Der Bibliothekar
rutschte ab, so erschrocken, daß er nicht einmal schrie, und fiel
wie ein Stein auf den Steinboden des Scriptoriums. Ein scharfer
Schmerz durchzuckte seinen Körper. Callixtus rang nach Luft, denn
der Aufprall hatte ihm den Atem verschlagen; zum Glück war er auf
den linken Arm gefallen und so von schlimmeren Verletzungen
verschont geblieben. Wieder hörte er ein Geräusch, und trotz der
Schmerzensschauer drehte er sich zu der dunklen Schattengestalt um,
die sich über ihn beugte.
»Hilf mir!« stöhnte er.
»In die Ewigkeit!« war die gezischte
Antwort. Callixtus öffnete den Mund. »Nein«, stöhnte er. »O nein,
das wollte ich doch nicht!« Er versuchte davonzukriechen, doch da
schlug ihm die verhüllte Gestalt einen schweren Messingleuchter an
die Schläfe und brach Callixtus' Schädel wie eine Nuß, so daß Blut
und Hirn herausrannen.
*
Am Tag nach dem »großen Wunder«
begannen Athelstans Schwierigkeiten erst richtig. Die Neuigkeit von
der
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