Die Sakristei Des Todes
versuchte trotz seiner Müdigkeit, Sir John bei Laune zu halten.
»Der Leichnam trägt keine Spur von Gewalt.«
»Gut!« murmelte
Cranston.
»Das zweite Opfer«, fuhr Athelstan
fort, »wurde auf dem Boden vor dem Bett gefunden. Los, Sir John,
spielt das vor.«
Cranston gehorchte und streckte sich
der Länge nach am Boden aus.
»Wiederum«, murmelte Athelstan,
»keine Spur von Gewalt, niemand war hereingekommen, und keine
vergifteten Speisen oder Getränke waren gebracht worden.« Er stand
auf und schob seinen Schemel dicht vor Cranstons Bett. »Und jetzt,
Sir John, die beiden letzten Toten. Ich bin der Mann, der auf dem
Schemel sitzt, und Ihr liegt auf dem Bett und tut, als hättet Ihr
eine geladene Armbrust in den Händen.« Cranston
gehorchte.
»Und jetzt, Sir John, springt Ihr
auf und schießt mir einen Pfeil in die Brust. Wenn Ihr Euch vom
Bett erhebt, stehe ich vom Schemel auf.«
Sie spielten die Szene wie zwei
Schauspieler; dann starrten sie einander
verdrossen an.
»Das führt zu nichts«, stöhnte
Cranston.
»Könnte es etwas im Feuer gewesen
sein oder an den Kerzen?« fragte Athelstan.
»Daran habe ich auch schon gedacht«,
antwortete Cranston. »Aber vergiß nicht, als der zweite starb, der
Priester aus dem Dorf, da brannten keine Kerzen, und das Feuer war
auch aus.«
»Mich beschäftigen die letzten
beiden Todesfälle«, sagte Athelstan, als Cranston ihn flehentlich
anschaute. »Laßt es uns noch einmal spielen, Sir John. Legt Euch
auf das Bett.« Cranston gehorchte. Athelstan nahm auf dem Schemel
Platz und lehnte sich an die Wand.
»Was hat den Bogenschützen
aufgeweckt?« fragte er. »Was hat ihm solche Angst gemacht, daß er
seinen Kameraden erschoß, bevor es ihn selbst tötete? Die meisten
Berufsschützen können blitzschnell schießen, und so starb der
Kamerad. Aber, wie die Mathematiker sagen: Es muß einen gemeinsamen
Nenner geben, etwas, das die beiden Tode miteinander verbindet. Wir
dürfen hier nichts durcheinanderbringen. Meint Ihr nicht auch, Sir
John?«
Lautes Schnarchen war die Antwort.
Athelstan erhob sich ungläubig. Cranston lag wie ein Kind auf dem
Rücken, ein Lächeln auf dem roten Gesicht, verloren für die Welt.
Athelstan zog ihm die Stiefel aus, löste seinen Gürtel und
versuchte, es ihm so bequem wie möglich zu machen. Dann blies er
die Kerzen aus, kniete vor seinem eigenen Bett nieder, bekreuzigte
sich und versuchte, das kirchliche Abendgebet zu sprechen, was aber
fast unmöglich war. Seine Gedanken wanderten von einem Problem zum
anderen: Bruder Rogers einfältiges Gesicht, Callixtus, kalt und
tot, die Inquisitoren mit ihren bösen, vorwurfsvollen Blicken,
Cranstons unlösbares Problem, das Chaos vor der Kirche St.
Erconwald - und dann Benedicta, wunderschön in ihrer Einsamkeit.
Athelstan schüttelte den Kopf, bekreuzigte sich erneut, stieg ins
Bett und betete, daß der Schlaf bald kommen möge. Er erwachte früh
am nächsten Morgen. Cranston schnarchte immer noch wie ein Schwein
im anderen Bett. Der Dominikaner rasierte und wusch sich leise, zog
eine saubere Kutte an und schob die Füße in die Riemensandalen. Er
schlich sich aus dem Gästehaus und über das nebelverhüllte Gelände,
denn die Glocke rief mit gedämpftem Klang zum Lobgebet. Athelstan
begab sich zu der Klostergemeinschaft auf ihren Bänken im Chor. Die
Mönche sangen Psalmen und lauschten den Lesungen, die Arme
verschränkt und die Köpfe gesenkt. Athelstan spürte, daß seine
Gegenwart ihre Neugier weckte. Er las seine Messe in einer kleinen
Stifterkapelle und versuchte, sich auf das Mysterium der Wandlung
von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi zu
konzentrieren.
Bruder Norbert war sein Meßdiener
und half ihm nachher auch, die Gewänder und heiligen Gefäße
wegzuräumen. Danach ging Athelstan ins Refektorium, um eine Schale
Hafergrütze mit Milch und Honig und zwei schneeweiße Brötchen zu
essen. Er dachte an das karge Frühstück, das es manchmal in St.
Erconwald gab, und trank lächelnd einen Schluck von seinem
verdünnten Bier. Er saß am ersten Tisch vor der Tür, der für
Besucher und Gäste reserviert war. Am Lesepult am oberen Ende des
Refektoriums las ein verschlafener Lektor mit eintöniger Stimme aus
dem Leben des hl. Dominikus, bis Pater Prior die Glocke läutete und
die Gemeinde aufstand und sich zu ihren verschiedenen Aufgaben
zerstreute. Athelstan hielt den Blick gesenkt. »Geht es dir gut,
Bruder?«
Er blickte auf. Henry von Winchester
stand vor ihm. »So gut, wie
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