Die Samenhändlerin (German Edition)
Krüppel behandelt werden, verdammt nochmal! Ich bin ein ganz normaler Mensch!«
»Ach, und Käthe ist kein normaler Mensch, weil sie ein Krüppel ist?«, schrie Emma zurück. Dann presste sie die Lippen zusammen, bevor sie in ihrem Zorn Dinge sagte, die sie später bereuen würde.
Doch im Grunde gab es nichts mehr zu sagen.
Emma spürte eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen. Sie stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl auf dem feuchten Wirtshausboden ein quietschendes Geräusch machte. »Vielleicht ist es das Beste, wenn du jetzt gehst!«
Auf der Straße starrte Hannah auf die beiden Schnitzbrote, die Emma ihr wieder in die Hand gedrückt hatte.
Was hatte sie nur getan!
Sie wusste gar nicht genau, was es gewesen war, das Emma so sehr verletzt hatte. Ihr eigener Schmerz war zu groß, als dass sie den anderer Menschen hätte wahrnehmen können. Aber eines wusste sie: Sie hatte Emma verletzt – ihre einzige Freundin in Gönningen. Emma, die immer für sie da gewesen war.
Sie war nicht nur ein Krüppel und eine Last für alle anderen. Sie war auch noch ein boshafter Mensch geworden.
Und sie war nun ganz allein.
40
Das alte Jahr huschte zur Tür hinaus wie ein Gast, der seinen Besuch zu lange ausgedehnt hat und dies zu spät merkt – und niemand in der Familie Kerner war ihm deswegen böse.
Doch das neue Jahr machte den Gönningern gleich das Leben schwer, mit viel Schnee, unter dessen Last die Äste derBäume zu brechen begannen, manche Dächer in sich zusammensackten und Kamine nicht mehr richtig zogen.
Emma und Käthe reisten ins Hohenlohische, ohne dass sich Hannah von ihnen verabschiedete.
Als es Anfang Februar darum ging, die Obstbäume zu beschneiden, war es Seraphine, die den Baumschnitt zur Feuerstelle schleppte und dort verbrannte.
»Am Ende stolperst du noch über ein Holzbündel«, sagte sie zu Hannah.
Und Hannah blieb zu Hause.
Sie war nicht dabei, als im März die Felder umgegraben wurden. Es war Seraphine, die den Männern beim Hacken und Düngen zur Hand ging.
»Mit deinem Fuß kommst du doch eh nur im Schneckentempo voran, du wärst also sowieso keine große Hilfe«, sagte sie, als sich Hannah die Arbeitsschuhe anziehen wollte.
Und Hannah blieb zu Hause.
Als Mitte April die Tulpen zu blühen begannen, nahm Hannah dies nur mit einem beiläufigen Blick wahr. Von den Dutzenden von Tulpenzwiebeln, die sie im vergangenen Herbst so mühevoll gesteckt hatte, hatte sich nur ein Bruchteil zu schönen Pflanzen entwickelt. Manche trieben nur ein paar magere, lange Blätter, viele Stellen im Beet blieben gänzlich kahl.
»An den Zwiebeln hatten die Mäuse wohl einen Festtagsschmaus«, mutmaßte Wilhelmine.
»Der eisige Winter ist schuld daran«, sagte Gottlieb.
»Nein, ich«, sagte Hannah. »Wahrscheinlich habe ich sie zu tief gesteckt.«
Helmut dagegen schimpfte lang und breit auf Piet, den holländischen Tulpenzwiebellieferanten, der ihnen mindere Ware angedreht hatte. »Da werden noch einige Klagen von unseren Kunden auf uns zukommen! Das kommt davon, wenn man seine Bestellungen nur noch schriftlich abgibt und sich nichtmehr persönlich bei den Lieferanten blicken lässt«, sagte er ärgerlich, doch Hannah hörte nicht mehr hin. Wie hatte sie sich einbilden können, Geschick für gärtnerische Dinge zu haben, fragte sie sich stumm. Mit Helmut, der ihr zuliebe Piet die Schuld zugeschoben hatte, sprach sie einen ganzen Tag lang nicht.
Als Tante Finchen Ende April völlig unerwartet starb – sie wachte eines Morgens einfach nicht mehr auf –, blieb Hannah keine andere Wahl, als das Haus zu verlassen. Während des Gottesdienstes vergoss sie keine Träne, obwohl rings um sie herum heftig geschnieft und geschnupft wurde. Doch kaum auf dem Friedhof angekommen, brachen ihre Dämme. Niemand ahnte, dass es vor allem der Anblick der Aberhunderte von Tulpen war, mit denen sich der Gönninger Friedhof in jedem Frühjahr schmückte, der sie zum Weinen brachte. Die Pracht der Blumen, die ausgerechnet hier, zwischen all den Toten, die alljährliche Wiedergeburt der Natur lobpreisten, machte Hannah plötzlich ihr eigenes jämmerliches Dasein bewusst. Wie hatte sie sich in den vergangenen Jahren immer auf das Frühjahr gefreut! Darauf, endlich wieder Farben zu sehen und nicht mehr nur das Schwarz-Weiß des Winters. In diesem Jahr taten ihr die Farben in den Augen weh, und ihr Blick wanderte beinahe sehnsüchtig zu Finchens Grab.
Sie zog zwar wie im vergangenen Jahr Gemüsestecklinge auf den
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