Die Samenhändlerin (German Edition)
so früh am Morgen war Gönningen noch jungfräulich weiß. Später am Tag würden sich unzählige Fußspuren geschäftiger Hausfrauen, die letzte Besorgungen für den Heiligen Abend zu machen hatten, in das Weiß graben. Pferdeäpfel, von Fuhrwerken herabfallende Kohle, Wischwasser, das durch die Vordertür eines Hauses hinausgeschüttet wurde – all dies würde den Schnee mit schmutzigen Schlieren überziehen.
Aber noch war alles weiß.
Weiße Weihnachten – alle freuten sich darüber, dass der Schnee erst gekommen war, nachdem sich alle Händler wohlbehalten wieder im Dorf befanden. Weiße Weihnachten – die Kinder würden von früh bis spät mit ihren Schlitten die Hügel hinabfahren, ihr Lachen und Gekreische würde im ganzen Dorf zu hören sein. Die Kirche war mit einer Zuckerschicht überzogen, und auf dem Nachhauseweg vom Gottesdienst würde das Kerzenlicht in den Fenstern besonders festlich aussehen.
Warum kann ich mich nicht daran erfreuen?, fragte sich Hannah und schob sogleich hinterher: Weil mir schöne Weihnachtsfeste wohl einfach nicht mehr vergönnt sind. Schon die letzten beiden Weihnachten waren für sie traurig gewesen, warum sollte es dieses Jahr anders sein? Der Gedanke, dass ihre weinerliche Stimmung mit dem heiligen Fest zusammenhängen könnte, beruhigte sie zumindest ein wenig.
Durch die Hausreihen fuhr ein eisiger Wind, die Äste der nackten Bäume knackten wie alte Knochen. Vielleicht war es gar zu kalt zum Schlittenfahren?
Heftig blinzelnd stapfte Hannah durch den Schnee, die beiden Brote fest unter den Arm geklemmt.
Jetzt heul nicht gleich los, nur weil es ein bisschen zieht, fauchte sie sich innerlich an. Und schau nicht immer nur zurück, es ist Zeit, endlich wieder nach vorn zu blicken! Abrupt blieb sie stehen und tat genau das, was sie sich gerade erst verboten hatte: Sie schaute zurück, auf die unregelmäßigen Tapser im Schnee, die ihre Füße hinterlassen hatten. Dort der Abdruck ihres linken Schuhs, ganz normal. Rechts daneben eine verwischte Spur, undeutlich, hingehuscht wie bei einem lahmen alten Hund, der seine Beine nicht mehr ordentlich heben kann.
Tränen stiegen Hannah in die Augen, und sie hatten nichts mit dem eisigen Wind zu tun. Aufgebracht hastete sie noch einmal zurück, humpelnd und schlitternd und nur darauf bedacht, die schreckliche Spur ihres Gebrechens auszuwischen.
Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie zu ihrer Linken eine Tür aufging. Marianne erschien, die sie mit offenem Mund anstarrte, als sei sie eine Verrückte.
Vielleicht bin ich ja verrückt, ging es Hannah trotzig durch den Kopf.
Wie gern war sie früher mit Helmut durch Gönningen gelaufen! Oder hinauf auf den Rossberg. Obwohl ihr Mann einen Kopf größer war als sie und viel längere Beine hatte, war sie so schnell marschiert wie er. Sie wusste, dass sie keinen leichtfüßigen Gang hatte, so wie andere Frauen. Ihre Mutter hatte früher oft geschimpft, wenn Hannah durch die Wirtschaft gepoltert war, als gelte es, einen Wettlauf zu gewinnen. Helmut hingegen hatte ihr rascher Schritt gefallen. »Mit dir kommt man wenigstens ein ordentliches Stück voran!«, hatte er mehr als einmal gesagt und ihr liebevoll den Arm um die Schulter gelegt.
Nun, das war ja erst einmal vorbei, dachte sie bitter. Mit einem Krüppel würde Helmut sicher nicht gesehen werden wollen.
Als Emma die Tür öffnete und Hannah vor sich sah, wusste sie nicht, ob sie sich freuen sollte. Käthe lag mit einer Erkältung im Bett und würde den ganzen Tag keine große Hilfe sein. In der Küche stapelte sich das Geschirr vom Vorabend, und Emma wollte noch zu Almuth in den Laden laufen, bevor diese schloss.
»Also, mit dir habe ich heute am allerwenigsten gerechnet!«, rutschte es ihr heraus. Mit einem Seufzer ließ sie den Wischlappen in den Eimer fallen. Sogleich quoll ihr eine scharfe Wolke Salmiakgeruch entgegen. Emma runzelte die Nase.
»Ich will dich nicht beim Putzen stören, aber das hier ist für euch beide!« Hannah hielt ihr ein Paket entgegen. »Frohe Weihnachten!«
Statt danach zu greifen, zog Emma die junge Freundin ins Haus.
»Du störst mich nicht, das weißt du doch. Zeit für eine Tasse Tee habe ich immer. Aber … Helmut ist doch jetzt zurück, da dachte ich, du hättest Besseres zu tun, als uns einsame Weiber zu besuchen.«
»Einsame Weiber!« Hannah lachte. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Ich kann Seraphines Geplapper einfach nicht mehr hören! Seit die
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