Die Samuraiprinzessin - Der Spiegel der Göttin: Band 1 (German Edition)
zaubern, sobald sie die Augen geöffnet haben, und obwohl sie sich ihrer Magie zunächst nicht bewusst sind, wächst sie mit jedem Tag, an dem sie leben. Irgendwann nimmt sie so sehr überhand, dass uns die Alten beiseitenehmen und erklären, was wir damit bewirken können. Je älter wir werden, desto mehr und unheimlicher wird es. Und je größer unsere Fähigkeiten werden, desto einsamer werden wir, wenn wir uns nicht zurückhalten und sie nur dann einsetzen, wenn es unbedingt nötig ist.«
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte ich beeindruckt weiter, denn nach allem, was die Kitsune zaubern konnte, musste sie schon sehr, sehr viele Winter erlebt haben.
»Das werde ich dir eines Tages vielleicht verraten. Vielleicht aber auch nicht. Und jetzt sieh nach, ob du etwas in deinem Proviantbeutel findest, ich habe Hunger. Denn trotz aller Magie bin ich doch ein Wesen aus Fleisch und Blut, nicht so ein Hüllenträger wie Enmas Diener.«
Zufrieden schob ich die Hand in meine Satteltasche. Diese Frage hatte sie mir immerhin klar beantwortet, auch wenn ich sie gar nicht erst gestellt hatte.
Am Morgen des dritten Tages tauchte der Palast vor uns auf. Er war von einer kleinen Ortschaft umgeben. Mächtige Pagodendächer türmten sich auf den einzelnen Gebäudeteilen, riesige Wachtürme sorgten dafür, dass Yoshinakas Hofstaat unbesorgt durch die bestimmt wunderbar gestalteten Höfe wandeln konnte. Das Dorf selbst schien sich vor dem Palast zu ducken wie ein Diener, der sich vor seinem Herrn niederwirft.
Um beides zu erreichen, mussten wir zwei Brücken überqueren. Die eine führte über eine tiefe Schlucht, die andere über einen reißenden Fluss.
Ich blickte zu meiner Begleiterin, die seit dem Morgengrauen merkwürdig still geblieben war. War sie denn nicht aufgeregt? Mir schlug das Herz bis zum Hals – besonders weil ich ihn wiedersehen würde. Yoshinaka …
»Sag mir, warum bist du so still heute?«
»Ich denke über vieles nach«, antwortete die Kitsune, ohne den Blick von den Kieseln zu heben, die die Brücke bedeckten.
»Willst du es mir nicht verraten?«
»Nein, denn es gibt Dinge, über die ich mir allein klar werden muss. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich jetzt in eine Bewohnerin eures Klosters verwandle, nicht wahr? Sonst werden sich die Leute im Palast fragen, was ich neben dir zu suchen habe.«
Noch während sie sprach, sprang sie von Akihikos Rücken. Dabei veränderte sich ihr Erscheinungsbild. Sie wurde wieder zu einem Menschen, doch ihre Gestalt wirkte diesmal etwas anders. Ihr hübsches junges Gesicht blieb, aber ihr Körper war kleiner und wirkte jugendlicher. Anstelle des weißen Kimonos, den sie sonst trug, schmiegten sich die Kampfkleider des Klosters an ihren Körper. Über ihrer Schulter erschien ein Bogen, und ein Pfeilköcher hing nun an ihrer Seite. Fehlte nur noch, dass sie sich ein Reittier zauberte.
»Warum lässt du nicht auch ein Pferd für dich erstehen?«, fragte ich, als ich ihr erneut die Hand anbot, um sie aufs Pferd zu heben.
Die Kitsune schüttelte den Kopf.
»Ich werde neben dir herlaufen, wie es sich für eine jüngere Schülerin gehört«, entgegnete sie. »Und was das Herbeizaubern von Lebewesen angeht, so vermag ich das nicht. Auch die Macht einer Kitsune ist beschränkt. Doch jetzt vergiss, dass ich kein Mensch bin, die Leute hier haben sicher gute Ohren.«
»Sie würden es ohnehin erst glauben, wenn du ihnen deine Verwandlungskünste zeigst. Die Menschen halten das für Legenden. Ich habe das auch getan, als meine Mutter mir davon erzählte.«
»Unterschätze die Menschen nicht, Tomoe-chan, einige von ihnen haben sehr wache Augen und sehen nicht nur damit, sondern auch mit ihrem Herzen. Dir wäre es früher oder später auch aufgefallen, dass es andere Wesen gibt neben den Menschen und Tieren.«
Auf einmal erinnerte ich mich wieder an den seltsamen Wolf, der mich an der heißen Quelle überrascht hatte. War er vielleicht auch ein Gestaltwandler gewesen? Warum sollte solch ein Tier eine Quelle bewachen?
Nachdem wir die zweite Brücke hinter uns gelassen hatten und bereits einigen Menschen begegnet waren, stieg ich ab und nahm Akihiko bei den Zügeln.
Die Dorfleute, die wir auf der Straße antrafen, blickten uns erstaunt an. Ein kleiner Junge löste sich aus der Menge und rannte davon. Hatten wir ihm Angst eingejagt? War er einer der Menschen, die mit dem Herzen sahen und Übernatürliches erkannten?
Unbeirrt gingen wir weiter und taten so, als würden wir
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