Die Samuraiprinzessin - Der Spiegel der Göttin: Band 1 (German Edition)
Auge zu und versuchte, die Scheibe, die mir auf einmal viel zu weit entfernt schien, anzuvisieren. Zweifel überkamen mich. Würde der Pfeil überhaupt so weit fliegen?
»Jetzt«, wisperte ich, als ich meinte, dass der Pfeil die richtige Höhe hatte. Hiroshi ließ los, der Pfeil sauste durch die Luft, traf allerdings die Scheibe nicht, sondern schnellte darüber hinweg.
Niedergeschlagen erwartete ich den Spott meines Lehrmeisters. Doch Hiroshis Miene blieb ruhig und ernst.
»Du hast nun gesehen, welchen Weg der Pfeil nimmt. Nur ein Stück tiefer und er hätte getroffen.«
»Hätte ich ihn selbst abgeschossen, wäre er wahrscheinlich nicht so weit geflogen«, entgegnete ich zerknirscht, worauf Hiroshi mir seine behandschuhte Hand auf die Schulter legte.
»Du wirst noch viel lernen müssen, Tomoe-chan. Aber ich habe keine Zweifel, dass du eines Tages eine gefürchtete Kriegerin sein wirst.«
Seine Worte hätten mich freuen können, doch sie taten es nicht. Zu sehr erinnerten sie mich an die Worte des Totengeistes, an seine Prophezeiung, von der das Unheil ausging, das über meine Familie gekommen war.
6
An diesem Vormittag begann ich meine Arbeit in der Küche, wo Satoshi, der beleibte Mönch, der mir bereits am Vorabend aufgefallen war, dafür sorgte, dass alle innerhalb dieser Klostermauern satt und zufrieden waren.
Die Küche war nicht besonders geräumig, verfügte aber über eine große, in den Fußboden eingesenkte Feuerstelle, die man auch Ro nannte und die in den Wintermonaten nicht nur zur Bereitung der Speisen, sondern auch des Tees diente. In der Ecke neben der Tür entdeckte ich sein Gegenstück, einen Furo. In dem tragbaren Gefäß konnte man Holzkohle entzünden und darüber das Teewasser erhitzen. Ich hatte dergleichen einmal im Haus des Gebietspräfekten gesehen, den mein Vater aufgesucht hatte. Zunächst hatte ich das Gebilde für ein Spielzeug gehalten, bis mein Vater mir den wahren Sinn erklärte.
Neben zahlreichen Fässern, in denen wer weiß was aufbewahrt wurde, hingen über dem Fenster unzählige Sträuße, wahrscheinlich Kräuter, die zum Trocknen aufgehängt worden waren. Satoshi war wohl nicht nur der Koch, sondern auch der Heiler des Klosters. Jedenfalls muteten die Kräutersträuße an, dass er sie nicht nur zum Würzen der Speisen gebrauchte.
Das Reislager, das Satoshi mir anschließend zeigte, war das größte, das ich bisher gesehen hatte. So viele Säcke! Ich musste wieder an die kargen Mahlzeiten bei uns zu Hause denken, an die schmalen Gesichter meiner Schwestern und an eine Begebenheit im vergangenen Winter. Eher zufällig hatte ich gesehen, dass Mutter nur so tat, als würde sie essen. Sie schüttete ihren Reis heimlich zurück in den Topf und behauptete dann, es sei noch etwas da. Den Rest verteilte sie unter uns Geschwistern, wobei es so wenig wurde, dass es sich für den Einzelnen kaum lohnte. Nach dieser Beobachtung war ich so beschämt, dass ich die Mahlzeit kaum herunterbekommen konnte und sie dem kleinen Ichiro anbot, der sie gierig in sich hineinschlang.
»Nanu, Mädchen, was hast du denn?«, fragte Satoshi, als er merkte, dass in meinen Augen etwas glitzerte. Die Erinnerung an meine Familie trieb mir Tränen in die Augen, und sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte sie nicht davon abhalten, dass sie flossen wie ein Bach im Frühling.
Da ich keine Antwort gab, murrte Satoshi und bedeutete mir schließlich nach draußen zu gehen. »Wenn du weiterheulst, wird der Reis noch nass und beginnt zu keimen!«
Aber auch vor der Tür wurde es nicht besser. Ich rieb mir mit den Ärmeln des Gewandes über die Augen, bis sie brannten, aber selbst dann, als sich schon große Wasserflecken auf dem Stoff gebildet hatten, versiegten die Tränen nicht.
Schließlich kam Satoshi. Einen Moment lang betrachtete er mich, als wollte er meine Gedanken lesen. Dann sagte er: »Was immer deinen Verstand bewegt, wird nicht besser, indem du deine Augen mit Tränen verbrennst. Versuche, deine Gedanken in Arbeit zu lenken, dann wird dir vielleicht leichter.«
Da hatte er recht, meine Eltern und meine Geschwister erwachten nicht wieder zum Leben, wenn ich draußen herumstand und weinte. Und die Armut, die mich zum Weinen gebracht hatte, hatte für sie nun keine Bedeutung mehr.
»Hier, putz die Wurzeln«, sagte der Koch dann und schob mir einen Korb mit Klettenwurzeln, die man Gobō nannte, unter die Nase. »Wenn du sie wässerst, ist es nicht so schlimm. Der Schmutz muss schließlich
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