Die Sanddornkönigin
bedeutet, verehrte Kollegin.«
Wencke legte den Hörer auf. Im selben Moment wusste sie schon, dass es ein Fehler war, doch sie hatte beileibe keine Ahnung, was sie hätte erwidern sollen.
»Tut mir Leid. Herr Hauptkommissar, aber die Menschen, mit denen ich hier zu tun habe, sind irgendwie ein verdrehtes Völkchen.« Oder: »Immerhin weiß ich schon, dass die vermisste Person ein Mordmotiv hat und dass ihr Mann ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse ist.«
Vielleicht hatte er auch Recht mit seinen Vorwürfen, weit waren sie wirklich noch nicht gekommen. Meints Sammelmappe, deren Inhalt auf dem Schreibtisch des kleinen Polizeibüros vor ihr ausgebreitet lag, zählte sechs Vernehmungsprotokolle und eine Hand voll weiterer Notizen. Das war es, was sie sehen wollten. Ermittlungen schwarz auf weiß, bitte sehr. Dass sich in ihrem Kopf ein Puzzle zusammenzufügen begann, interessierte keine Menschenseele. Das Faxgerät spuckte graue Fotokopien von der toten Sanddornkönigin aus, die Papiere landeten in dem eckigen Auffangkorb, und niemand schenkte ihnen Aufmerksamkeit, bis Meint sie mit den anderen Unterlagen in seine Mappe steckte.
»Soll ich uns einen Tee aufsetzen?«, fragte der freundliche Inselpolizist.
Wencke und Meint schüttelten beide die Köpfe. Ständig bekam man hier etwas angeboten, dachte Wencke, ihr stand es bis sonstwo. Besonders der Gedanke an Sanders, der nun ab morgen mit von der Partie sein und ihr alle Nase lang klugschwätzerische Sätze um die Ohren hauen würde, machten ihre Kehle trocken vor Wut. Diese Insel war, weiß Gott, schon eng genug: Mit diesem Besserwisser an der Seite würde sie bald Platzangst bekommen, so viel war sicher. Wenn sie nur diese Felten-Cromminga bald zu packen bekämen, dann stünde sie morgen wenigstens nicht ganz so dämlich da.
»Ich gehe kurz an die frische Luft«, sagte sie.
Meint saß an der Schreibmaschine und tippte seine Berichte ins Reine. Er blickte nur kurz auf, und sie sah in seinem Blick einen Funken Mitleid. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich eben eine gehörige Abreibung hatte einstecken müssen.
Draußen, ein paar Schritte von der kleinen Polizeidienststelle entfernt, stand unter einer großen Silberpappel eine verwitterte Bank, auf die sie sich setzte, die Beine hochgezogen und den Kopf darauf gelegt.
»Scheiße, scheiße, scheiße…«, stieß sie leise in die kalte Abendluft. Dann entfuhren ihr grummelnde Laute, von denen sie wusste, dass sie über kurz oder lang ihre Wut abbauen konnten. Bis sich jemand neben sie setzte.
»Du bist wütend«, sagte Fokke.
Sie nickte nur. Er sagte eine Zeit lang gar nichts, dann legte er den Arm um sie. Sie erschrak, doch nicht wegen dieser vertraulichen Geste, sondern weil sie nicht für einen Moment daran dachte, ihn von sich zu stoßen. Dass seine Berührung auf ihrer Schulter ein warmes, beruhigendes Gefühl hinterließ, war ihr unangenehm bewusst, denn es war nicht ihre Art, sich von jemandem Trost zu borgen, und es war vor allem nicht gerade professionell, dies ausgerechnet bei dem Sohn einer flüchtigen Tatverdächtigen zu tun. Doch es tat verdammt gut.
Sie griff in ihre Jackentasche und holte die Zigaretten heraus.
»Möchtest du?«, fragte sie.
»Ich rauche nicht, hab ich noch nie getan. Es schadet den Geschmacksnerven.«
»Was ist mit deiner Mutter?«
»Es geht ihr gut, ich war gerade bei ihr.«
Wencke hob den Kopf und schaute ihn an. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.
»Es wäre gut, wenn ihr sie in Ruhe lassen könntet.«
»Wie stellst du dir das vor? Dir ist doch wohl klar, dass sie sich durch ihr Verhalten in eine ziemlich schlechte Lage gebracht hat. Sie steht ganz oben auf unserer Hitliste der potenziellen Verdächtigen. Wir können sie nicht einfach so in Ruhe lassen.«
»Dann hat mein Stiefvater ja mal wieder alles perfekt manipuliert.«
»Thore Felten, der Puppenspieler, oder was? Ich kann dich beruhigen, er lässt weder mich noch meine Kollegen an seinen Fäden tanzen.«
»Ich kenne ihn. Er bringt es sogar fertig, dass meine Mutter ein Geständnis ablegt, ohne es gewesen zu sein. Frag mich nicht, wie er das macht, aber er schafft es.«
Sie seufzte. Der Gedanke an Manipulation gefiel ihr absolut nicht, schon gar nicht, wenn sie selbst davon betroffen sein sollte. Doch die Fakten lagen nun mal eindeutig auf der Hand.
»Sie hat es quasi schon getan…«
Fokke blickte ihr nun direkt ins Gesicht, sie konnte ihm ansehen, dass seine Gedanken einen Salto
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