Die Sanddornkönigin
schlugen.
»Was hat sie schon getan?«
»Gestanden. Es gibt da ein Tonband, man hört zwar nicht viel, in erster Linie unverständliche, gestammelte Worte, doch es lässt sich nicht leugnen: Sie fühlt sich in irgendeiner Weise schuldig an Ronja Polwinskis Tod in den Dünen. Darüber hinaus haben wir in ihrem Kellerzimmer Klamotten von Ronja gefunden, etwas zu halbherzig versteckt für meinen Geschmack, aber ein eindeutiges Indiz. Und ihr Motiv, verdammt nochmal, Eifersucht ist nun mal ein klassisches Mordmotiv. Etwas abgedroschen vielleicht, aber es kommt direkt nach dem allseits beliebten Raubmord am häufigsten vor, dass vermeintliche Nebenbuhler um die Ecke gebracht werden.« Wencke fühlte sich ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut als kühl kalkulierende Kriminalkommissarin, die eins und eins zusammenzählt und dem Mann neben sich die Rechnung präsentiert, dass seine Mutter eine la Mörderin abgibt. Denn ihr Bauch, dieses gefühlsduselige Wesen, das sie krampfhaft zu ignorieren versuchte, soufflierte ihr eine ganz andere Wahrheit. »Was wäre, wenn wir sie in Ruhe ließen?«
»Lass alles seinen Weg gehen, und ich verspreche dir, dass sich Thore Felten am Ende selbst entlarvt.« Fokke hatte nun auch die Beine nach oben gezogen, er nahm den Arm von ihrer Schulter und zog seine Schnürsenkel fester. Seine braunen Boots waren sandig.
»Versprochen?«
Er nickte. Weder pathetisch noch ironisch, er nickte einfach nur. Und sie beschloss, dieses eine Mal noch auf ihren Bauch zu hören. Klar, es war ein Blindflug zwischen Himmel und Hölle, und ihre Intuitionen hatten sich bislang als recht dürftiger Autopilot erwiesen. Doch sie konnte nicht anders, Augen zu und durch, Wencke.
Freitag
S ie war nicht eingeschlafen. Ihr waren noch nicht einmal für einen kurzen Moment die Augen zugefallen.
Doch sie war froh, dass es wieder hell wurde. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern, als sie kurz nach Fokkes Abschied die Männer über die Dünen kommen sah. Flucht wäre nicht möglich gewesen, es waren zu viele, sechs oder sieben mit Lampen und Funkgeräten. Unsinnigerweise hatte sie sich unter dem Fischernetz zu verbergen versucht, ein denkbar schlechtes Versteck, wenn ein halbes Dutzend Feuerwehrmänner in diesen Raum kämen, um ihn zu kontrollieren. Doch sie kamen nicht. Hilke hatte sicher eine halbe Stunde unter den stinkenden Tauen gekauert, bevor sie wieder hervorzukriechen wagte. Und dann war nichts mehr zu hören gewesen. Eine Weile hielt sie sich trotzdem noch geduckt, dann blickte sie aus dem Fenster und wusste, dass sie wieder mit der Dunkelheit allein war.
Das Herzklopfen und die panische Angst hielten sie aber die ganze Nacht wach. Ihr war nicht kalt, der Junge hatte noch etwas Tee dagelassen und sein Schlafsack hielt die klamme, kühle Luft von ihrem Körper fern. Sie saß einfach nur am Fenster und schaute so lange, bis sich ihre Augen in der Finsternis so gut zurechtfanden, dass sie meinte, sogar die Fußspuren erkennen zu können, die die Männer einen Steinwurf entfernt in den Dünensand getreten hatten. Ihre Ohren nahmen Töne wahr, die man fast schon als Stille bezeichnen könnte, wenn das Meer nicht gewesen wäre. Es war immer da und rauschte, wie um seine Gegenwart zu demonstrieren, und sie hatte es so viele Jahre nicht gehört, niemand hörte es mehr hier auf der Insel. Doch in der letzten Nacht war es ihr so vertraut vorgekommen, dass sie den Atem anhielt, um ihm zu lauschen. Sie würde nie woanders leben wollen als hier.
Sie sah Fokke zwischen zwei Dünen, er war noch einige Schritte von der Hütte entfernt, und sie beschloss, ihm entgegenzugehen. Als sie den Reißverschluss aufzog, musste sie ein wenig nach Luft schnappen, die Morgenluft umfasste ihren Körper mit kalten, gierigen Fingern. Sie stieg aus dem Schlafsack heraus und ging vor die Tür. Erst jetzt fiel ihr auf, wie verbraucht die Luft in dem kleinen Raum war. Der Wind blies ihr die letzte Müdigkeit aus dem Gesicht, und sie überlegte kurz, wie es wäre, den Rest des Lebens hier zu verbringen.
»Hilke, guten Morgen«, rief ihr Sohn, als er sie erblickte. Es war erst sieben Uhr, wenn Fokke den ganzen Weg zu Fuß gekommen war, dann musste er ziemlich früh aufgestanden sein. Er winkte ihr mit einem Stoffbeutel in der Hand zu. Wie sie ihn kannte, hatte er sicher ein kleines Frühstück mitgebracht. Dankbar lief sie ihm entgegen.
»War es schlimm heute Nacht?«, fragte er.
»Nein, nicht schlimmer als tausend andere Nächte vorher.«
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