Die Sanddornkönigin
Er nahm sie in den Arm und rieb sie warm.
»Es waren Männer hier.«
»Ich weiß, ich habe sie gesehen, als sie den Deich hinuntergingen.«
»Wie hast du sie dazu bewegen können umzukehren?«
Fokke schüttelte nur den Kopf und lächelte. »Lass uns erst einmal hineingehen, Mutter.«
Er breitete auf der Holztruhe eine kleine Tischdekke aus, es war eine braune von früher, sie hatte einmal »Hotel Dünenschloss« auf die Ecke gestickt. Warmer Kaffeeduft mischte sich mit dem feuchten Mief der Holzhütte. Hilke trank einen Schluck und fühlte sich gut.
Fokke holte aus dem Stoffsack einige in Servietten gewickelte Brote heraus.
»Ich konnte mich nicht allzu sehr in der Küche bedienen, ohne dass es aufgefallen wäre. Deswegen sind hier nur ein paar Sandwiches mit allem, was ich so auftreiben konnte.«
Hilke spürte ihren Hunger, die Brote waren reichlich belegt, als sie hineinbiss, quollen an der anderen Seite der Käse und die Tomatensoße hervor. Fokke lachte kurz, dann nahm er das alte Jägermesser, welches auf der Truhe gelegen hatte, und zerteilte das Sandwich.
»Wir haben einen großen Vorteil in diesem ganzen Schlamassel«, begann er. Sie schaute ihn erwartungsvoll an, da sie sich nicht vorstellen konnte, was er damit meinte.
»Diese junge Kommissarin, hast du sie mal gesehen? Sie ist in Ordnung. Ich will damit sagen, dass sie Thore auch nicht über den Weg traut, sie scheint eine gute Menschenkenntnis zu haben. Ich habe sie dazu überreden können, dich vorerst in Ruhe zu lassen.«
»Wie stellst du dir das vor? Wie lange soll das denn gutgehen? Dann müsste sie doch etwas Konkretes in der Hand haben, oder nicht?«
»Wir werden ihr etwas Konkretes bieten, Mutter.« Er verschüttete ein wenig Kaffee, der Fleck sah auf der Decke aus wie Wasser. »Wir müssen ihr Beweise liefern, dass Thore den Mord begangen hat.«
Hilke starrte ihn an. Er hatte dieses eben so gelassen ausgesprochen, doch es wühlte sie auf. Es war ein Gedanke, den sie selbst nie gefasst hatte, der ihr ungeheuerlich vorkam, doch der auch einen ganz neuen Weg für sie aufzeigte.
»Bitte, Mutter, schau mich nicht so schockiert an. Er ist das Schwein, er ist schon immer eins gewesen.«
»Fokke, ich weiß, dass du ihn hasst. Er hat dir sicher auch genügend Gründe dafür geliefert. Aber es ist absurd, ihn eines solchen Verbrechens zu beschuldigen.«
Er lachte bitter auf. »Dass ausgerechnet du ihn jetzt in Schutz nehmen willst, das ist absurd. Überlege doch mal, wohin er dich gebracht hat. Warum geht es dir denn so schlecht, warum musst du vor ihm in die Dünen flüchten wie ein kleines Kaninchen? Er hat dich so weit gebracht. Seinetwegen musstest du Ilka und Dörthe ins Internat geben und bist deinen Töchtern fremder geworden als eine entfernte Verwandte. Seinetwegen wurde dein Zuhause zu einem scheißfeinen Luxushotel, in dem du dir wie eine Gefangene vorkommst. Seinetwegen rennst du zu diesem fetten Psychiater, der dir den Kopf noch mehr verdreht…«
»… und seinetwegen habe ich dich mit zehn Jahren allein gelassen; und du musstest bei deinen Großeltern aufwachsen, wurdest ausgestoßen aus unserer kleinen Familie, warst auf dich selber angewiesen, bist mit der ›Auster‹ gescheitert. Nein, mein Junge, so einfach ist das nicht, daran bin ich genauso schuldig. Ich hätte stark sein müssen, von Anfang an, dann wäre dies alles nicht passiert.«
»Du konntest nicht stark sein, er hat dich in die Knie gezwungen, du hattest keine Chance.«
»Selbst wenn es so wäre, es gibt uns dennoch kein Recht dazu, ihm einen Mord in die Schuhe zu schieben, den er nicht begangen hat. Er hat diese Ronja verehrt, vielleicht sogar geliebt. Warum sollte er ihr das Leben nehmen?«
Es war keine Bitterkeit in ihrer Stimme, und Hilke wunderte sich selbst darüber. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, was sie bislang nicht hatte verstehen wollen: Sie empfand keinen Groll gegen ihren Mann. Sicher, er hatte ihr das Leben alles andere als leicht gemacht, vielleicht hatte er sie sogar mit seiner Assistentin betrogen, doch das war es nicht, was sie in die Tiefe hiabgezogen hatte. Es war sie selbst gewesen, es war die Wut darüber, dass sie dem Leben nicht die Stirn geboten hatte. Sie konnte Thore nicht ans Messer liefern, nur weil sie nicht in der Lage gewesen war, ihren Willen durchzusetzen.
»Ich bin mir sicher«, sagte Fokke mit fester Stimme, »ich bin mir sogar verdammt sicher, dass er einen Grund dafür hatte. Mein lieber Stiefvater hat diese
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