Die Sanddornkönigin
diese Beförderung, wenn sie es so viel einfacher haben könnte, wenn sie Entscheidungen anderer einfach nur hinnehmen müsste, ohne Fragen zu stellen. Sie wusste die Antwort: Weil sie dafür zu gut war. Sie hatte sich schon so oft beweisen müssen. »Werde doch was Künstlerisches«, hatten ihr damals, zu Hause in Worpswede, alle geraten, und sie hatten es gut gemeint. Doch Wencke hatte einen anderen Weg für sich gewählt. Sie kannte dieses Künstlerleben, in ihrer Familie schien eine solche Karriere in den Genen zu liegen, es bedeutete schlafen bis mittags, dann erst einmal mit der ersten hysterischen Kreativitätskrise fertig werden, Tee trinken, Musen treffen, bis man dann abends nach zehn endlich so weit ist, all die Kunst aus sich herausfließen zu lassen und sich die Nacht damit um die Ohren schlagen muss. Sie wurde von allen belächelt, als sie ankündigte, die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, sie wurde zum Sonderling in der Familie. Bereits auf der Polizeischule hatte sie geglaubt, es könne schlimmer nicht kommen, da sie es nicht gewohnt gewesen war, sich schikanieren zu lassen oder Männern in Uniformen zu gehorchen, die im Befehlston von ihr verlangten, über eine Drei-Meter- Wand zu klettern. Doch es kam schlimmer, denn sie wurde für mehr als ein Jahr zu Büroarbeit und Kaffeekochen verdonnert. Hätte dieser Job nur eine Woche länger gedauert, sie hätte aufgegeben und irgendetwas Künstlerisches studiert, und keiner hätte es ihr angekreidet außer sie selbst. Doch dann kam dieses Angebot, nach Ostfriesland zu gehen. Aurich, Polizeidienst in der Sonderkommission, flaches Land und hauptsächlich Fälle von Selbstmord. Es war kein begehrter Job, aber Wencke griff zu und war endlich zufrieden. Die Provinz war lebendiger, als sie dachte, die kleine Kreisstadt hatte auch ihre Kriminellen, und Wencke beschloss zu bleiben. Anfangs bekam sie noch viel Besuch aus der Heimat, doch als Ostfriesland mehr und mehr zu ihrem neuen Zuhause wurde, blieben die alten Freunde und Bekannten weg. Auf einmal war sie wieder Single, auf einmal war sie erwachsen, und auf einmal war es so weit, dass ihr der Beruf Spaß machte.
»Tut mir Leid, dass ich dich gestern Abend übergangen habe. Ich denke nur, dass wir einen Fehler gemacht hätten, wenn wir auf dieser winzigen Insel mit einem Großaufgebot an Mannschaften nach Frau Felten-Cromminga gefahndet hätten wie nach einer überführten Mörderin. Denn ich denke nicht, dass sie es ist.«
»Was weißt du denn, was mir bislang entgangen ist? Wir kennen diese Frau doch noch nicht einmal.«
Wencke zuckte mit den Schultern.
»Ich warne dich, Wencke. Mach hier keinen Alleingang. Das endet im Chaos, da gebe ich dir mein Wort drauf.« Meint war sauer, und er hatte auch jeden Grund dafür, das war ihr klar. Doch sie hatte nicht die Energie, ihn zu beschwichtigen, sie konnte ja noch nicht einmal selbst zur Ruhe kommen. Gestern Abend, als dieser Fokke so ruhig und selbstverständlich den Arm um sie gelegt und mit ihr gesprochen hatte, da war ihr alles ganz plausibel erschienen. Sie war ins Büro marschiert und hatte Siemen Ellers die Suchtrupps zurückpfeifen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbst das ungläubige Kopfschütteln ihrer Kollegen und das erneute Gebrüll aus dem Telefonhörer hatten sie nicht einen Moment an der Richtigkeit ihres Entschlusses zweifeln lassen: Keine weitere Suche nach Hilke Felten-Cromminga! Niemandem hatte sie von Fokke erzählt, schon gar nicht von dem Hauch, den ihre Lippen jetzt noch spürten und den man vielleicht für einen Kuss hatte halten können.
Meint schälte sich einen Apfel. Er war so ein Typ, der das Obst in acht gleich große, entkernte Spalten schnitt und in einer Tupperdose verpackt zur Arbeit mitnahm. Wencke biss immer vom ganzen Apfel ab und hatte dann ein viel zu großes Stück im Mund und Schale zwischen den Vorderzähnen.
»Wer war es denn deiner Ansicht nach? Ich sollte schon ein bisschen mehr in petto haben, wenn Sanders gleich hier auftaucht, sonst bin ich noch gezwungen, mich an ihn zu halten, um überhaupt irgendetwas von dem Fall hier mitzukriegen.«
Wencke klaute sich ein Stück Apfel.
»Sagen wir es so: Ich habe gestern einen Tipp bekommen, der mir irgendwie plausibler erscheint als diese Eifersuchtskiste, die Felten uns gestern auftischen wollte.«
»Was war denn daran unglaubwürdig?«
»Thore Felten an sich ist unglaubwürdig. Er scheint uns den Weg zu ebnen, und in Wirklichkeit schmeißt er uns Knüppel
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