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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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aus Wind und Regen treiben. Am höchsten Punkt angelangt, reckte ich den Kopf, um unter dem Applaus der Umstehenden den blühenden Zweig eines Aprikosenbaums abzubeißen. Welch herrliche Zügellosigkeit, was für ein Genuß! Ich bin erleuchtet, eine Heilige ...! Schließlich ließ ich den Deich brechen, die Flut ebbte ab, die Wellen wurden kleiner, die großen Fische verschwanden, dann die kleinen und die Garnelen ... schwapp, schwapp, immer weiter nach unten. Am tiefsten Punkt angelangt, machte ich einen Satz, und mein Körper hing umgekehrt zwischen den straff gespannten, zitternden Seilen, das Gesicht der frischen Erde und den winzigen, violetten Blüten im Gras zugewandt; zwischen den Zähnen hatte ich den Aprikosenblütenzweig, und meine Nase war voll von zartem Aprikosenduft.
    Während ich auf der Schaukel meinen Spaß hatte, verfolgten die Zuschauer am Boden, all diese kleinen Nichtsnutze meine Ausgelassenheit. Sie riefen Oh! wenn ich nach oben schwang und Ah! wenn ich wieder herunterkam. Der regenfeuchte, süße und salzige, nach feuchtem Rindsleder schmeckende Wind spielte in meinen Kleidern, durchnäßte mir die Brust. Ich war berauscht. Was meinem Vater auch zugestoßen sein mochte, eine verheiratete Tochter ist schließlich wie vergossenes Wasser. Kümmere dich selbst um deine Angelegenheiten, Vater, denn deine Tochter wird sich von heute an nur noch um sich selbst sorgen. Zu Hause habe ich einen braven und ehrlichen Ehemann, der mich vor den Unwägbarkeiten des Lebens schützt, und draußen habe ich einen mächtigen und einflußreichen, liebe- und geschmackvollen Liebhaber. Will ich Wein, dann fließt er, will ich Fleisch, dann steht es auf dem Tisch. Ich kann tun und lassen, was ich will, weinen, lachen, mich gehenlassen  – das macht mir so leicht keiner nach. Das ist das Glück! Das ist das Glück, das ich meiner Mutter zu verdanken habe, denn sie hat ihr ganzes Leben lang unglücklich und wie eine Nonne gelebt und für mich gebetet. Das ist das Glück, das das Schicksal für mich vorgesehen hat. Dank sei dem Himmel! Dank sei dem Kaiser und der Kaiserin! Dank sei meinem Patenonkel, Seiner Exzellenz Qian. Dank sei meinem einfältigen Xiaojia. Dank sei dem Herrn Präfekten Qian für den Zauberstab der Unsterblichkeit, den er mir hat anfertigen lassen, ein Schatz, der im Himmel und auf Erden seinesgleichen sucht, meine Medizin. Und Dank sei schließlich der weisen Ehefrau des Herrn Präfekten, die in den hinteren Gemächern wohnt und keine Kinder bekommen kann. Deshalb empfahl sie ihm, sich eine Konkubine zu nehmen ...

5.
    Es heißt, daß das Faß überläuft, wenn es zu voll ist, und der Mond abnimmt, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Jedermanns Glück hat irgendwann ein Ende, und auch der zufriedenste Hund muß irgendwann einmal Kot fressen. Während ich fröhlich auf der Schaukel stand und meinen Kopf in den Wind hielt, schickte sich mein Vater Sun Bing an, das einfache Volk von Dongbei in einen Aufstand gegen die Deutschen zu führen. Mit geschulterten Spaten und mit Äxten, Harken und Mistgabeln bewehrt, umzingelten seine Leute die Baracken der Deutschen, die die Eisenbahnschienen verlegten. Sie schlugen einen Haufen chinesischer Kollaborateure tot und nahmen drei deutsche Soldaten als Geiseln. Sie rissen den Deutschen die Kleider vom Leib, banden sie an große Schnurbäume und pinkelten ihnen ins Gesicht. Sie steckten die hölzernen Markierungen für die Bahnlinie in Brand, rissen die Eisenbahnschienen aus dem Boden und warfen sie in den Fluß. Sie nahmen die Schwellen mit nach Hause, um daraus Schweineställe zu bauen, und dann zündeten sie die Baracken an.
    Ich schaukelte unterdessen auf meiner Schaukel bis zum höchsten Punkt, wo ich über die Stadtmauer hinweg einen freien Blick auf die fischschuppenartigen Dächer der Häuser hatte. Ich sah die mit blauen Steinen gepflasterte Straße vor dem Yamen und die lange Reihe der schindelgedeckten Häuser, die zum Anwesen meines Patenonkels gehörten. Seine große Sänfte mit vier Trägern hatte das innere Tor des Yamen bereits passiert. Ihr voraus ging ein Amtsdiener in der üblichen Dienstkleidung aus schwarzer Robe und roter Kappe, der den Gong schlug, um den Weg frei zu machen. Dann kamen zwei höherrangige Bedienstete in der gleichen Aufmachung, die Banner und Schirme trugen. Zwei mit Schwertern bewaffnete Wachen stützten die Sänfte. Hinter ihr gingen die Sekretäre der sechs Büros des Yamen und die persönlichen Bediensteten hasteten

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