Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Mauern hatte man notdürftig mit alten Lumpen verstopft. Am Kopfende des Kangs kauerte eine Frau vor einem Spinnrad. Sie hatte ein verwittertes Gesicht und ihr Haar war von vielen weißen Strähnen durchzogen. Sie wirkte wie ein altes Großmütterchen. Zhao Jia legte den Beamten mit Hilfe seines Sohnes auf den Kang, machte eine Verbeugung und wollte sich entfernen.
»Mein Name ist Liu, mein Vorname Guangdi, ich habe im Jahr Guiwei der Ära unseres Kaisers Guangxu den Doktortitel erlangt und bin schon seit vielen Jahren leitender Beamter im Tribunal des Justizministeriums, das hier sind meine Frau und mein Sohn. Wir befinden uns in so ärmlichen Verhältnissen, daß wir der Großmutter lächerlich vorkommen müssen!« sagte er freundlich.
»Exzellenz hat meine Wenigkeit also doch erkannt ...« sagte Zhao Jia, und lief rot an.
»Tatsächlich sind deine Arbeit und die meine im Grunde so verschieden nicht. Beide arbeiten wir für das Reich im Dienste Seiner Majestät des Kaisers. Doch du bist wichtiger als ich.« Liu Guangdi seufzte. »Selbst wenn ein paar leitende Beamte im Tribunal des Justizministeriums fehlten, ginge die Arbeit im Ministerium ihren Gang. Doch wenn es Großmutter Zhao nicht gäbe, verdiente das Ministerium seinen Namen nicht. Denn den tausenden von Gesetzen dieses Staates wird letztendlich nur durch dein Schwert zu ihrer Geltung verholfen.«
Zhao Jia kniete gerührt nieder. »Exzellenz Liu, ich bin Euch für Eure Worte aufrichtig dankbar, denn in den Augen der meisten ist der Wert von Leuten meines Metiers geringer als der von Hunden und Schweinen! Und Ihr, Exzellenz, hebt uns auf eine so hohe Stufe!«
»Steh auf, steh auf, guter Zhao«, sagte Liu Guangdi, »für heute möchte ich dich nicht länger aufhalten, ein andermal lade ich dich gerne zu einem Glas Wein ein.« Er wandte sich an den mageren jungen Mann: »Pu'er, bring Großmutter Zhao bitte zum Tor.«
Zhao Jia sagte hastig: »Es ist wirklich nicht nötig, Euren Sohn zu bemühen ...«
Der junge Mann lächelte ein wenig und machte eine höfliche Verbeugung. Seine Artigkeit und seine Bescheidenheit hinterließen bei Zhao Jia einen bleibenden Eindruck.
3.
Am ersten Tag des ersten Monats des dreiundzwanzigsten Regierungsjahres des Kaisers Guangxu betrat Liu Guangdi in seiner Amtsrobe und mit einem Bündel geölten Papiers unter dem Arm den seitlichen Anbau des Tribunals, in dem die Henker wohnten. Sie saßen gerade auf dem Kang, spielten Fingerknobeln und zechten zur Feier des Neuen Jahres. Als sie die hochrangige Persönlichkeit eintreten sahen, schraken sie auf und gerieten in Panik. Zhao Jia glitt mit bloßen Füßen vom Kang herunter, kniete vor Liu Guangdi nieder und sagte: »Ich wünsche Seiner Exzellenz ein gutes Neues Jahr!«
Die anderen Henker stiegen ebenfalls vom Kang herunter, knieten sich hin und sagten im Chor: »Wir wünschen Seiner Exzellenz ein gutes Neues Jahr!«
Liu Guangdi sagte: »Steht bitte auf, der Boden ist ja eiskalt.«
Die Henker erhoben sich mit seitlich angelegten Händen, wagten aber nicht, ihre Plätze auf dem Kang wieder einzunehmen.
»Heute habe ich Dienst und möchte es mir mit euch zusammen gutgehen lassen.« Er wickelte das Ölpapier auf und es kam gebratener Schinkenspeck zum Vorschein. Aus seinem Gewand zog er eine Flasche Schnaps und sagte: »Das Fleisch hat meine Frau zubereitet, den Schnaps hat mir ein Freund geschenkt. Kommt und laßt es euch schmecken.«
»Wie könnten wir es wagen, am selben Tisch wie Exzellenz essen?« sagte Zhao Jia.
»Heute feiern wir Neujahr, vergessen wir die Etikette!«
»Exzellenz, wir können uns wirklich nicht erlauben ...«, versuchte Zhao Jia einzuwenden.
»Mein guter Zhao, was ist los?« Liu Guangdi legte seine Kappe und seine Amtsrobe ab. »Wir arbeiten doch alle im gleichen Yamen, warum diese übertriebene Höflichkeit?«
Die anderen Henker sahen auf Zhao Jia. Dieser sagte: »Da uns Seine Exzellenz Liu solche Anerkennung zuteil werden läßt, wollen wir Seinem Wunsch folge leisten, anstatt ihn mit der gebotenen Förmlichkeit abzulehnen. Exzellenz, Ihr habt die Ehre anzufangen!«
Liu Guangdi zog die Schuhe aus, kletterte auf den Kang, setzte sich mit gekreuzten Beinen hin und sagte: »Euer Kang ist wirklich angenehm warm.«
Die Henker lachten einfältig und rührten sich nicht. Der Beamte sagte: »Muß ich euch einzeln heraufziehen?«
»Auf den Kang, los«, sagte Zhao Jia, »wir wollen Seine Exzellenz Liu doch nicht verärgern.«
Die Henker kletterten mit
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