Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
zweiundzwanzigsten Regierungsjahr des Kaisers Guangxu, schneite es.
Am frühen Morgen war die Hauptstadt ganz in silbrig glänzendes Weiß getaucht. Beim Klang der Tempelglocken erhob sich Zhao Jia, der Erste Foltermeister der Hinrichtungsabteilung des Tribunals des Justizministeriums, von seinem Kang, zog sich Zivilkleidung über und machte sich, eine große Schale unter dem Arm, in Begleitung seines soeben rekrutierten Lehrlings, auf den Weg in den Tempel, um dort seine Schale mit Reissuppe füllen zu lassen. Auf der kalten Straße vor dem Ministerium mischten sie sich unter die geschäftig umherwuselnden Bettler. Es war ein Morgen des Glücks für die Armen. Unter ihren rot und weiß gefrorenen Gesichtern war nicht eines, auf dem nicht ein freudiger Ausdruck lag. Der frisch gefallene Schnee knirschte unter den Fußstapfen der Leute. Auf den Schnurbäumen, die die Straße säumten, häuften sich die silbrigen Schneeflocken wie pralle weiße Blüten. Die Sonne sah hinter den grauen Wolken hervor und ihre rotgoldenen Strahlen auf dem weißen Schnee boten einen wunderbaren Anblick. Alle Leute liefen den Xidan-Boulevard entlang Richtung Nordwesten, wo sich die meisten der großen Tempel befanden. Aus vielen der Zelte, in denen Essen an die Armen ausgegeben wurde, stiegen bereits Küchendämpfe auf. Als sie sich dem Xisi Pailou näherten, das für seine blutige Geschichte berüchtigt war, sahen sie, wie aus dem dichten Wald hinter Xishiku Schwärme von Krähen und graue Kraniche aufflogen.
Zusammen mit seinem pfiffigen und begabten Lehrling stellte er sich in die Reihe der Wartenden vor dem Tempel der Großen Barmherzigkeit. Auf dem weiten Platz vor dem Tempel hatte man einen riesigen Eisenkessel aufgestellt, unter dem Pinienholz brannte. Die Flammen schlugen hoch auf und verbreiteten in alle Richtungen ihre Wärme. Zhao Jia konnte beobachten, wie die zerlumpten Bettler hin- und hergerissen waren zwischen dem Wunsch, sich in der Nähe des Feuers zu wärmen, und der Furcht, ihren Platz in der Reihe zu verlieren. Der heiße Dampf, der aus dem Kessel aufstieg, blieb in dichten Schwaden über dem Kessel hängen, ohne sich aufzulösen, wie die Luftgeister, die man aus den Legenden kennt. Zwei schäbig gekleidete Mönche standen mit großen Schöpfkellen in der Hand gebückt neben dem Kessel und rührten die Reissuppe darin um. Er hörte das unangenehme, kratzende Geräusch der über den Kesselboden schabenden eisernen Kellen. Die Leute auf der Straße stampften in einem fort mit ihren taubgefrorenen Füßen auf, so daß der Schnee bald ganz niedergetrampelt war und schmutziggrau wurde. Schließlich wehte auch der Duft der Reissuppe herüber. In der kalten und klaren Winterluft roch diese schlichte Speise so unglaublich intensiv, daß die mit knurrenden Mägen Wartenden ganz ungeduldig wurden. Er konnte feststellen, wie sehr ihre Augen in Erwartung der karitativen Verköstigung glänzten. Ein paar kleine Bettler sprangen wie Äffchen mit eingezogenem Kopf immer wieder nach vorn, um ihre Nasen in den dampfenden Kessel zu stecken und einmal tief den Geruch einzusaugen, um dann flugs wieder an ihren Platz in der Reihe zu eilen. Die Wartenden stampften immer rascher mit den Füßen auf, wobei sie kräftig hin und her wackelten.
Zhao Jia trug Socken aus Hundefell und darüber ein Paar abgetragene Filzstiefel. Seine Füße waren nicht kalt, und er stampfte auch nicht auf. Er war auch keineswegs hungrig. Daß er hierherkam, um für Reissuppe anzustehen, war allein dem Respekt vor der Tradition seiner Vorfahren der Henkerzunft geschuldet, und nicht etwa einem leeren Magen. Wie ihm sein Meister einmal erklärt hatte, gingen die Henker am achten Tag des zwölften Monats in den Tempel, um sich eine Schale mit Reissuppe zu holen und damit vor dem Buddha zu demonstrieren, daß sie ihrem Beruf aus dem gleichen Grund nachgingen wie die Bettler, die auf der Straße die Hand aufhielten: nämlich um satt zu werden und nicht etwa, weil es ihnen so viel Freude bereitete, Menschen zu töten. Die Bitte um eine Schüssel Reissuppe war Ausdruck ihrer Identifikation mit den untersten Schichten der Gesellschaft. Selbst wenn die Henker der Hinrichtungsabteilung jeden Tag in Weizenfladen gewickeltes Fleisch essen konnten – einmal im Jahr mußten sie hier um eine Schüssel Reissuppe anstehen.
Erst glaubte Zhao Jia, er sei der einzige, der in dieser langen Schlange seelenruhig ausharrte, doch nach kurzer Zeit schon fiel ihm weiter vorn eine
Weitere Kostenlose Bücher