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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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sich besser hinhocken zu können, und trank, im Gegensatz zu den lauten Schlürfern ringsum, seine Suppe geräuschlos. In dem Moment, als er sich mit seiner Schale in der Hand umgedreht hatte, erkannte Zhao Jia das ausgemergelte Gesicht mit der großen Nase und dem breiten Mund: Es war einer der leitenden Beamten des Tribunals des Justizministeriums. Insgeheim stieß Zhao Jia einen tiefen Seufzer des Bedauerns für diesen Menschen aus, dessen Gesicht ihm vertraut war, dessen Namen er aber nicht kannte. Wer es zu einem Amt in einem der Sechs Ministerien gebracht hatte, kam zweifelsfrei aus gutem Hause und war ein erfolgreicher Absolvent des Palastexamens; es war einfach unerhört, daß ein solcher Mensch so arm sein sollte, daß er hier unter den Bettlern nach Suppe anstehen mußte. Zhao Jia war nun schon jahrzehntelang im Justizministerium beschäftigt und kannte die Schliche der kaiserlichen Beamten, um an Geld und bessere Posten zu kommen, genau. Der Mann, der hier am Straßenrand im Schnee seine Schüssel ausleckte, mußte entweder ein vollkommener Trottel oder ein Heiliger sein.
    Auch Zhao Jia und sein Lehrling hockten sich, nachdem ihre Schüsseln gefüllt worden waren, zum Essen an den Straßenrand. Während er seine Suppe trank, ließ Zhao Jia den Mann nicht aus den Augen. Dieser hielt seine feine Porzellanschale fest umschlossen, wohl um sich die Hände daran zu wärmen. Als er fertiggegessen hatte, versteckte er schnell sein Gesicht und die Schüssel hinter dem großen Ärmel seines Gewands. Zhao Jia verstand erst nicht, was das sollte, aber dann erriet er es. Und tatsächlich, als der Mann seinen Ärmel wieder sinken ließ, war seine Schüssel blitzsauber geleckt. Er steckte sie ein, stand auf und ging in Richtung Justizministerium.
    Zhao Jia und der Lehrling folgten ihm. Sie hatten ohnehin den gleichen Weg. Der Mann hatte lange Beine und schritt weit aus. Mit jedem Schritt reckte er den Kopf nach vorn wie ein ungestümes Pferd. Seine beiden Verfolger verfielen in einen leichten Trab, um mit ihm Schritt halten zu können. Als er sich später daran erinnerte, konnte Zhao nicht mehr sagen, was ihn dazu getrieben hatte, dem Mann nachzulaufen. Beim Einbiegen in eine enge Gasse auf der Höhe des berühmten Tontopfgasthauses rutschte der Beamte plötzlich aus und fiel rücklings zu Boden. Das blaue Bündel, das er unter dem Arm trug, flog davon. Zhao Jia erschrak; im ersten Moment wollte er zu ihm hineilen, um zu helfen, aber die Furcht vor Komplikationen ließ ihn stehenbleiben und beobachten, was geschehen würde. Der Mann blieb einen Moment liegen und kam dann mit großer Mühe wieder auf die Beine. Nach nur wenigen Schritten brach er wieder zusammen. Offensichtlich war er schwer verletzt. Zhao Jia gab dem Lehrling seine Schüssel, rannte zu dem Mann hin und half ihm auf. Besorgt schaute er in das schweißgebadete Gesicht des Mannes und fragte: »Werter Herr, seid Ihr verletzt?«
    Ohne zu antworten, machte der Angesprochene, auf Zhao Jias Schulter gestützt, ein paar Schritte. Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    »Werter Herr, Ihr scheint mir schwer verletzt zu sein.«
    »Wer bist du?« fragte der Mann mißtrauisch.
    »Werter Herr, meine Wenigkeit ist ein kleiner Angestellter des Tribunals des Justizministeriums.«
    »Des Tribunals des Justizministeriums?« fragte der andere. »Wie kommt es, daß ich dich nicht kenne?«
    »Der werte Herr kennt meine Wenigkeit nicht, doch ich kenne Euch«, sagte Zhao Jia. »Wenn ich irgend etwas für Euch tun kann, laßt es mich bitte wissen.«
    Der Mann versuchte erneut, sich in Bewegung zu setzen, aber sein Körper war zu schwach und er setzte sich in den Schnee. »Ich kann nicht mehr gehen. Besorge mir einen Wagen, der mich nach Hause bringt.«

2.
    Zhao Jia winkte einen Eselskarren herbei, auf dem Kohlen transportiert wurden, und begleitete den Beamten bis zu einem heruntergekommenen alten Tempel in der Nähe des Xishi-Tors. Im verschneiten Hof des Tempels übte sich ein großgewachsener junger Mann, der so dürr aussah, als könnte ihn ein Windhauch umwerfen, auf dem verschneiten Gelände in der Kampfkunst. Trotz der unbarmherzigen Kälte trug er nicht mehr als ein dünnes Hemd und schwitzte am ganzen Körper. Als Zhao Jia den Beamten auf dem Karren in den Hof brachte, kam der junge Mann sofort herbeigerannt und rief: »Vater!« Dann brach er in Tränen aus. Im Tempel gab es keine Feuerstelle, der kalte Wind heulte durch die Papierfenster. Die Ritzen in den

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