Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
Tan Liuyang ein Mann von Charakter, jemand, der entweder ein kritischer Freund sein kann oder ein entschiedener Feind.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Tan Liuyang ist ein Drache unter den Menschen. Er würde sein Leben für einen Freund geben, und als Feind wäre er von gleicher Entschlossenheit. Wer ihn tötet, erntet lebenslangen Ruhm; wer durch ihn getötet wird, stirbt einen würdigen Tod.«
    »Ich weiß deine Aufrichtigkeit zu schätzen«, seufzte Yuan Shikai, »schade nur, daß Tan Sitong mir zu nichts mehr nütze sein kann. Er wurde soeben in Beijing enthauptet. Wußtest du das?«
    »Ich habe bereits davon erfahren.«
    »Und was denkst du darüber?«
    »Ich bin zutiefst betroffen.«
    »Bringt es herein!« Auf einen Wink des Generals hin brachten zwei seiner Gefolgsleute eine große schwarze Lackkiste mit goldfarbener Bemalung herein. Yuan sagte: »Ich habe zwei Menüs für dich zur Auswahl vorbereiten lassen.«
    Einer der Männer öffnete die große Kiste, in der zwei Essensboxen zum Vorschein kamen. Er stellte sie auf den Tisch.
    »Bitte sehr!« sagte Yuan Shikai lächelnd.
    Xiongfei öffnete die erste Box und stellte fest, daß sie eine Porzellanschüssel mit rotem Blumenmuster, gefüllt mit sechs großen Fleischbällchen in Sojasauce, enthielt.
    Er öffnete die zweite Box. Darin befand sich ein Knochen, an dem noch ein paar Fleischfasern hingen.
    Xiongfei hob den Kopf und blickte Yuan an, der ihm lächelnd ins Gesicht sah. Er überlegte einen Augenblick, bevor er schließlich den Knochen herausnahm.
    Yuan Shikai nickte zufrieden. Er ging zu ihm hin, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Du bist wirklich intelligent. Diesen Knochen hat mir die Kaiserinwitwe persönlich zukommen lassen. Es ist zwar nicht mehr viel Fleisch dran, aber er schmeckt nicht schlecht. Guten Appetit!«

6.
    Die Hände an den Pistolen begannen leicht zu erbeben, der Zorn kochte in ihm hoch. Xiongfei beobachtete Yuan Shikai, der begleitet von seiner Leibgarde über die schwankende Bohle an Land ging. Unter den Klängen der Militärkapelle waren die Soldaten vom Pferd gestiegen und knieten zur Begrüßung nieder. Nur er, Qian Xiongfei, war auf seinem Pferd sitzen geblieben. Yuan Shikai grüßte seine Untergebenen mit der Hand. Auf seinem markanten Gesicht lag ein distinguiertes Lächeln. Er musterte seine Truppe eingehend. Schließlich trafen sich ihre Blicke und Xiongfei wurde klar, daß der General verstanden hatte. Das gehörte zu seinem Plan. Er hätte nicht gewollt, daß Yuan Shikai nicht wußte, durch wessen Hand er starb. Er preschte nach vorn und zog dabei die Pistolen heraus. Es dauerte nur Sekunden. Mit lauter Stimme schrie er: »Das ist meine Rache für die Sechs Heroen, Exzellenz Yuan!«
    Er zog die rechte Pistole und drückte ab. Doch der erwartete Knall blieb aus, es gab keinen Pulvergeruch und nichts von dem, was er sich unzählige Male ausgemalt hatte, passierte. Yuan Shikais Gesicht blieb intakt.
    Er zog die linke Pistole und drückte ab  – doch wieder fiel kein Schuß. Nichts.
    Die Offiziere waren von dem plötzlichen Geschehen völlig überrumpelt und standen mit offenen Mündern wie versteinert da. Hätten seine Pistolen nicht versagt, hätte er in aller Ruhe auch noch alle zukünftigen Präsidenten und Premierminister des Landes erschießen können  – und die neuere chinesische Geschichte hätte umgeschrieben werden müssen. Doch im entscheidenden Moment wurde er von seinen goldenen Bräuten betrogen. Er hielt sie sich vors Gesicht, er war fassungslos. Dann warf er sie wütend in den Fluß und rief: »Verdammte Nutten!«
    Yuan Shikais Leibgarde stürmte auf ihn los und riß ihn vom Pferd. Auch die am Ufer knienden Offiziere stürzten sich nun auf ihn und machten Anstalten, ihn in Stücke zu reißen.
    Yuan Shikai hingegen blieb völlig gelassen. Während die großen Hände der Leibgarde den Attentäter auf den Boden drückten, begnügte er sich damit, ihm ein paarmal ins Gesicht zu treten. Kopfschüttelnd sagte er: »Schade, wirklich zu schade um dich!«
    Mit Mühe stieß Xiongfei hervor: »Exzellenz hatten recht, eine Waffe ist keine Mutter.«
    Yuan Shikai sagte lächelnd: »Eine Waffe ist auch keine Frau.«

Kapitel 12:
Der Zwiespalt

1.
    Zwei Tage nach dem Blutbad von Masang saß der Präfekt in seinem Schreibzimmer und verfaßte persönlich ein Telegramm an Cao Gui, Bezirkspräfekt von Laizhou, Tan Rong, Magistrat des Verwaltungsbezirks Laiqing, und Yuan Shikai, Provinzgouverneur von Shandong, um

Weitere Kostenlose Bücher