Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
sie über die Greueltaten der Deutschen in Gaomi in Kenntnis zu setzen. Die tragische Szene, deren Zeuge er am Vortag geworden war, zog immer wieder an seinem inneren Auge vorüber, er hatte noch das Echo der Klagen und Beschimpfungen der Leute im Ohr. Zornig ließ er seinen Pinsel über das Papier fegen, und seine Worte waren voller aufrichtiger Leidenschaft.
Der Bürovorsteher trat auf Zehenspitzen ein, um ihm ein Telegramm zu überreichen. Es war von Yuan Shikai und ursprünglich an den Bezirkspräfekten von Laizhou adressiert, mit dem Befehl, es dem Präfekten von Gaomi weiterzuleiten. Yuan drängte darauf, Sun Bing so schnell wie möglich zu verhaften und dem Richter vorzuführen. Außerdem verlangte es vom Präfekten, den Deutschen fünftausend Pfund Silbergeld als Entschädigungszahlung für ihre Verluste zukommen zu lassen und den am Kopf verwundeten deutschen Techniker Langhans im Missionshospital von Qingdao zu besuchen, und ihm ein angemessenes Geschenk zu überreichen. Es dürfe auf keinen Fall zu weiteren Vorkommnissen dieser Art kommen, schrieb er, und so weiter und so fort.
Als er das Schreiben zu Ende gelesen hatte, schlug Qian Ding mit der Faust auf den Tisch, stand auf und fluchte: »Dreckskerl«, ohne zu wissen, ob er Yuan Shikai oder den Deutschen damit meinte. Er bemerkte, wie der kleine Ziegenbart des Bürovorstehers zitterte und es in seinen Augen dämonisch flackerte. Er mochte diesen Sekretär nicht besonders, aber er war auf ihn angewiesen. Der Mann war ein mit allen Wassern gewaschener Winkeladvokat und obendrein Cousin des ihm übergeordneten Justizsekretärs. Wenn er vermeiden wollte, daß die Beschlüsse seines Landkreises nicht von der übergeordneten Präfektur revidiert wurden, mußte er mit diesem Sekretär zusammenarbeiten.
»Sekretär, man soll mein Pferd satteln.«
»Darf ich Exzellenz fragen, wohin Ihr zu reiten gedenkt?«
»Nach Laizhou in die Präfektur.«
»Darf ich erfahren, was Ihr dort vorhabt?«
»Ich möchte Seine Exzellenz sprechen, um Gerechtigkeit für das Volk von Gaomi zu erwirken!«
Der Bürovorsteher nahm ungeniert das Telegramm in die Hand, das Qian Ding soeben verfaßt hatte, las es begierig und fragte: »Wollt Ihr dieses Telegramm tatsächlich an den Provinzgouverneur schicken?«
»Ganz gewiß. Habt Ihr etwas dazu anzumerken?«
»Exzellenz, Euer Diener ist in letzter Zeit etwas schwerfällig geworden. Ich höre und sehe schlecht und mein Verstand funktioniert nicht mehr einwandfrei. Ich fürchte, daß die Fortsetzung meiner Dienste den Zielen des Präfekten eher abträglich wäre, und möchte Euch deshalb gnädigst um Gewährung meines Ruhestands ersuchen.« Mit einem verschämten Lächeln zog der Sekretär ein Schreiben aus seinem Ärmel und legte es auf den Tisch. »Mein Entlassungsgesuch.«
Qian Ding warf einen Blick darauf und sagte bitter: »So, der Baum ist noch nicht gefällt, aber die Affen machen sich schon davon.«
Der Sekretär ließ sich nicht provozieren und lächelte nur höflich.
»Wie sagt man doch: ›Ein Mann und eine Frau allein machen noch kein Ehepaar‹. Wenn Ihr also gehen wollt, dann will ich Euch nicht aufhalten. Tut, was Ihr für richtig haltet.«
»Ich danke Exzellenz für die Gnade der Gewährung meiner Bitte.«
»Wartet, bis ich aus Laizhou zurück bin, dann werde ich ein Abschiedsbankett für Euch geben.«
»Ich danke Euch für Eure große Freundlichkeit.«
»Ihr könnt gehen!« Der Präfekt machte eine Geste mit der Hand.
Der Bürovorsteher ging zur Tür, drehte sich aber dort noch einmal um und sagte: »Exzellenz, Ihr und ich, wir haben schließlich eine ganze Weile zusammengearbeitet. Wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf – Ihr solltet nicht nach Laizhou reiten. Und Ihr solltet auch dieses Telegramm nicht abschicken.«
»Sagt mir, was Ihr denkt.«
»Exzellenz, ich sage nur einen Satz: Ihr steht im Dienst Eurer Vorgesetzten und nicht im Dienst des Volkes. Wer ein Staatsdiener sein will, der darf kein Bewußtsein von Moral haben, wer es aber hat, der sollte sich eine andere Aufgabe suchen.«
Der Präfekt lachte spöttisch: »Das waren deutliche Worte, Herr Sekretär. Was gibt es sonst noch? Bitte, nehmt kein Blatt vor den Mund.«
»Sun Bing so schnell wie möglich zu verhaften und einzusperren, ist Eure einzige Möglichkeit, eine Katastrophe zu verhindern«, sagte der Sekretär, wobei er Qian Ding mit einem durchdringenden Blick ansah. »Aber ich weiß, daß Ihr das nicht tun könnt.«
»Deshalb
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