Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
vorüberzogen, kamen sie sich regelrecht nackt vor. Ursprünglich hatte der Präfekt im Sinn gehabt, den Deutschen bei den Verhandlungen die Erhabenheit des chinesischen Kaiserreichs zu demonstrieren, indem er ihnen seine Truppen vorführte, doch in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß dies ein idiotisches Unterfangen gewesen wäre. Man hätte sich nur den Spiegel der eigenen Lächerlichkeit vorgehalten. Kein Wunder, daß die Soldaten der Präfektur, als er ihnen die Order zum Aufbruch gab, seltsame Grimassen geschnitten hatten. Sie hatten der Tongde-Akademie mit Sicherheit bereits einen Besuch abgestattet, um sich von der Ausstattung und dem Drill der deutschen Armee zu überzeugen. Während seiner Krankheit war ihm bereits berichtet worden, daß die deutschen Truppen die Kreisstadt eingenommen und die Tongde-Akademie besetzt hatten, um sie zu ihrem Truppenübungsquartier zu machen. Ein Grund für diese Besetzung der Akademie war wohl, daß schon ihr Name ›Tongde‹, der wörtlich auch als »beherrscht von den Deutschen« zu lesen war, diese geradezu dazu einlud. Nach seinem Selbstmordversuch war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um ermessen zu können, was diese Nachricht bedeutete. Aber nach und nach war seine Empörung immer größer geworden. Wie Piraten hatten sich die Deutschen benommen und die Würde des Präfekten und der Großen Qing-Dynastie beleidigt. Eigenhändig hatte Qian Ding sofort eine diplomatische Protestnote verfaßt, die er dem deutschen Kommandanten Knobel über Chunsheng und Liu Pu überbringen ließ. Darin hatte er eine Entschuldigung und den sofortigen Rückzug der deutschen Truppen aus seiner Präfektur verlangt. Die Eindringlinge sollten sich in die zwischen China und Deutschland im Vertrag von Jiaozhou festgelegten Gebiete zurückziehen. Doch die beiden kehrten mit der Nachricht zurück, daß Knobel für die Stationierung seiner Truppen in Gaomi bereits die Genehmigung Yuan Shikais und des kaiserlichen Hofs erhalten habe. Für einen Moment hatte er noch an der Wahrheit dieser Angaben gezweifelt, doch bald darauf war diese Mitteilung durch eine Depesche Yuan Shikais und einem offiziellen Erlaß des Bezirkspräfekten Cao bestätigt worden. Seine Exzellenz Yuan befahl ihm, den Deutschen bei der Stationierung ihrer Truppen in Gaomi Unterstützung zu leisten. Außerdem sollte er schnellstmöglich Mittel und Wege finden, um die von dem Rebellen Sun Bing als Geiseln gefangengenommenen Deutschen zu befreien.
Yuans Worts hatten streng und gewichtig geklungen: »... Der jüngste schwerwiegende Vorfall hat die von mir regierte Provinz Shandong praktisch die Hälfte ihrer Souveränität gekostet. Es ist kaum auszudenken, was passieren würde, falls die jetzt in Geiselhaft genommenen Personen zu Schaden kommen sollten. Nicht nur, daß dem Land dann die Teilung bevorstünde, wir müßten auch um unser Leben und das Leben unserer Familien fürchten. In diesen kritischen Zeiten heißt es, die Interessen unseres Staates zu unserer ersten Priorität zu machen, keine Mühen zu scheuen, sich der Klärung dieser Angelegenheit zu widmen und persönliche Interessen dabei zurückzustellen. Jede Unentschlossenheit und jeder Verzug wird gnadenlos bestraft werden. Wenn ich als Euer Provinzgouverneur mit den Boxer-Rebellen im Norden Shandongs fertig bin, werde ich nach Gaomi kommen, um dort die Sache in die Hand zu nehmen. ... Nach den Vorkommnissen am zweiten Tag des zweiten Monats habe ich mehrfach Telegramme mit dem Befehl zur Festnahme Sun Bings an den Präfekten von Gaomi geschickt, um weiterem Ärger vorzubeugen, doch der Präfekt antwortete mir mit einem Schreiben, in dem er diese Rebellen auch noch entschuldigte. Das war der Gipfel der Verworrenheit! Weil er die Verantwortung auf andere abwälzte und nicht sofort zur Tat schritt, hat es eine große Katastrophe gegeben. Präfekt Qian hat seine Aufgabe nicht ernst genommen und müßte aus diesem Grund eigentlich streng bestraft und seines Amtes enthoben werden. Doch angesichts des Mangels an talentierten amtlichen Persönlichkeiten in diesem Land und der engen familiären Beziehung des Präfekten zu einem verdienten Minister unseres Reiches lassen wir in seinem Fall Gnade vor Recht ergehen. Er muß sein Vergehen einsehen und es durch besondere Verdienste wiedergutmachen, und er muß sich schleunigst einen Plan zur Befreiung der Geiseln und zur Beruhigung der Deutschen überlegen ...«
Nachdem er das Telegramm zu Ende gelesen hatte,
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