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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Osten ist schon die silberne Scheibe des Mondes aufgegangen. Der Glanz des Mondes hat etwas Beunruhigendes, es ist mir, als würde ein großes Ereignis bevorstehen. Ich versuche, meinen Geist zu sammeln. Plötzlich fällt es mir ein: Heute ist der vierzehnte Tag des achten Monats, morgen also der fünfzehnte  – Mittherbstfest! Der Tag, an dem sich alles unter dem Himmel vereint. Wie kannst du dich glücklich schätzen, Sun Bing, daß Seine Exzellenz Yuan ausgerechnet diesen Tag für deine Exekution angesetzt hat! Im schwachen Schein des Feuers und des Mondlichts sehen die beiden Sandelholzstäbe im Topf aus wie zwei glänzende, schwarze Schlangen. Mithilfe eines Tuchs nehme ich einen davon, ganz ganz vorsichtig, heraus, und halte ihn hoch. Sein Glanz ist wirklich unvergleichlich. Das Öl sammelt sich in dicken Tropfen an seiner Spitze und tropft von dort in einem feinen Rinnsaal geräuschlos in den Topf zurück. Das Öl im Topf ist jetzt sehr zähflüssig. Ich habe das Gefühl, daß das Sandelholz bereits an Dichte gewonnen hat. Der Stab hat eine große Menge Öl absorbiert, die die Natur des Holzes verändert hat, die den Stab zu einem exquisiten Folterinstrument gemacht hat, hart und geschmeidig zugleich.
    Während ich in der Bewunderung meines Werkzeugs versunken bin, ist der Dritte Song leise an mich herangetreten. Er sagt sauertöpfisch zu mir: »Exzellenz, es geht doch nur darum, einen Menschen aufzuspießen, wozu der ganze Aufwand?«
    Ich rümpfe verächtlich die Nase und würdige ihn keines Blickes. Hat der eine Ahnung! Versteht er sich überhaupt auf etwas anderes als darauf, sich aufzuspielen, die einfachen Leute zu schikanieren und sich zu bereichern?
    »Ihr könnt nach Hause gehen und Euch schlafen legen, wir kümmern uns schon um diese Kleinigkeiten.« Nach wie vor wuselt er um mich herum und fügt an: »Sun Bing, dieser verdammte Hurensohn, das ist schon ein toller Kerl! Er ist ein Mann von Mut und Talent, er traut sich was und läßt sich von nichts abschrecken. Zu schade, daß er in so einem Nest wie Gaomi geboren wurde, wo ihm seine Fähigkeiten zu nichts nütze sind.« Er geht immer noch nicht weg und sagt, anscheinend, um sich bei mir einzuschmeicheln: »Ihr seid ja erst vor kurzem hierher zurückgekehrt, Duchlaucht, und kennt den Vater Eurer Schwiegertochter nicht besonders gut. Ich bin ein langjähriger Freund von ihm und weiß einfach alles über ihn.«
    Ach, du Großmaul, du Speichellecker. Immer das Fähnchen in den Wind hängen, was? Aber ich habe keine Lust, ihm über den Mund zu fahren. Ich lasse ihn reden, dann hat er wenigstens etwas zu tun.
    »Sun Bing, der ist schon ein Genie, er redet wie gedruckt, hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Zu dumm, daß er Analphabet ist, sonst hätte er schon zehnmal einen Doktortitel erlangt.« Er fährt fort: »Damals, als die Mutter Qin gestorben ist, haben sie Suns Theaterkompanie bestellt, die Totenklage zu singen. Qin und Sun waren enge Freunde, Mutter Qin war für ihn wie seine eigene Mutter. Er begann also mit großem Gefühl zu singen, daß es der versammelten Trauergesellschaft fast das Herz brach. Doch da vernahm man plötzlich aus dem Sarg ein Klopfen. Allen gefror das Blut in den Adern. Wollte etwa die Tote wiederauferstehen? Sun Bing ging beherzt zu dem Sarg und riß ohne weiteres den Deckel auf. Die alte Frau richtete sich in ihrem Sarg auf und warf einen Blick in die Runde mit Augen wie zwei Laternen in der Dunkelheit. Sun Bing begann zu singen: ›Ich habe deinen Namen gesungen, Adoptivmutter und du hast mich gehört, für deinen Sohn habe ich die Weise ›Changmao betrauert die tote Seele‹ gesungen. Wenn du nicht noch genug gelebt hast, steige aus deinem Sarg und lebe weiter. Wenn du aber genug gelebt hast, dann höre dir den Trauergesang zu Ende an, und steige auf zu den toten Seelen.‹ Sun Bing sang, er zog alle Register und sang alle Rollen. Er sang Klagelieder und fröhliche, zwischendurch miaute er obendrein und verwandelte so die Trauerzeremonie in eine lebendige Operninszenierung. Die Trauergesellschaft vergaß nicht nur ihre Trauer, sondern scherte sich auch nicht mehr darum, daß dort eine Leiche aufrecht in ihrem Sarg saß und mit ihnen dem Gesang lauschte. Erst als Sun Bing mit seinem Schauspiel am Ende war und sein letzter Ton noch in der Luft vibrierte, schloß die alte Mutter Qin langsam die Augen, stieß einen zufriedenen Seufzer aus und fiel dann starr wie eine Mauer in ihren Sarg zurück. Seitdem erzählt man sich,

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