Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
seien schon immer Schauspieler gewesen und die Schauspieler schon immer Bettler. Die Bettler und ich, wir sind schicksalhaft miteinander verbunden. Deshalb kommt mir die merkwürdige Bettlerparade an diesem besonderen Tag auch gar nicht so merkwürdig vor, und schreckt mich nicht. Für die deutschen Soldaten aus Qingdao ist es aber das erste Mal, daß sie so etwas zu sehen bekommen. Sie führen sich auf, als hätten sie den Todfeind vor sich, laut stampfen sie mit ihrem Gewehrkolben auf und machen große Augen angesichts der wilden Bande. Als sie die Bettler aus der Nähe sehen, entspannen sich die Hände, die eben noch angespannt die Waffen hielten. Die Soldaten rümpfen die Nasen und verdrehen seltsam die Augen. Die Soldaten der kaiserlichen Armee führen sich nicht ganz so albern auf, immerhin verstehen sie unsere Sprache. Die Deutschen verstehen kein Wort. Sie verstehen nur das Miauen, das den Gesang der Bettler regelmäßig unterbricht. Ich kann verstehen, daß sie sich darüber wundern, warum sich die Leute zusammenrotten, um auf der Straße wie Katzen zu miauen. Über dem Anblick der Bettler haben sie mich schon ganz vergessen. Mich und meinen Versuch, ins Yamen zu gelangen. Mir wird heiß, denn nach dem ersten Schritt gibt es kein Zurück mehr, wenn der Krug einmal umgestoßen ist, ist das Öl verschüttet.
Diese Gelegenheit schickt mir der Himmel. Ich muß den Moment der Unruhe nutzen und unbemerkt in den Hof hineinschlüpfen. Um ihren Vater aus den Ketten zu befreien, läuft Sun Meiniang und fürchtet nicht den Tod, eilt zur Großen Halle hin. Sie wagt den Kampf des Hühnereis gegen den großen Kieselstein, und wird dafür auf ewig eine tapfere Heldin sein. Ich warte auf den günstigsten Moment. Der Gong des Siebten Kleinen Hou ertönt immer lauter, immer klagender wird sein seltsamer Gesang. Die ganze Bettlerschar miaut in falschen Tönen, immer lauter wird ihr Geschrei, immer ärger werden ihre Grimassen. Als sie in meiner Nähe sind, ziehen sie, wie um mir ein geheimes Zeichen zu geben, Katzenfelle mit Kopf und Schwanz heraus und legen sie sich auf die Köpfe und die Schultern. Die Soldaten sind ganz verblüfft. Worauf warte ich noch? Unbemerkt husche ich durch die Reihen der Soldaten und schleiche zum Tor. Doch die Soldaten kommen schnell wieder zur Besinnung und schon habe ich ihre Bajonette vor der Brust. Mit dem Mut der Verzweiflung renne ich dagegen an, gut, wenn ich sterben muß, dann soll es eben sein!
Zwei große Kerle lösen sich aus dem Bettlerpulk. Sie packen mich an den Schultern, ziehen mich mit aller Kraft zurück. Ich wehre mich mit Händen und Füßen, aber ich komme nicht gegen sie an. Ich fürchte den Tod nicht, ich fürchte nur den Verlust meines Geliebten. Qian Ding, wo bist du? Ich lasse mich widerstandslos herumstoßen wie ein Esel. Die Bettler umzingeln mich mit irrem Geschrei. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, plötzlich sitze ich auf dem Rattanstuhl. Ich fange an zu strampeln und will herunterspringen, doch schon haben vier Bettler die Tragstangen aus Bambus auf ihre Schultern gehoben. Ich throne über allen und hüpfe auf dem schaukelnden Stuhl auf und ab. Ich fange an zu weinen. Die Bettler werden nur noch wilder. Der Siebte Kleine Hou schlägt seinen Gong mit aller Kraft und stimmt einen schrillen Gesang an:
»Ich wollt den Hund verjagen,
Mit einem Stein – miau!
Doch der Stein, den ich fand,
Biß mir in die Hand – miau!«
Unfreiwillig stehe ich nun im Zentrum der Parade der Bettler, die sich in Richtung Osten bewegt, das Yamen weit hinter sich lassend. Nach einer Weile biegen sie von der Hauptstraße ab, und wir sind in einem kleinen Viertel, in dem nach ein paar Dutzend Metern das von grüner Bohnenhirse bedeckte Dach des Tempels der Göttin sichtbar wird. Die Bettler haben aufgehört zu singen und zu schreien. Ihre Schritte werden schneller und entschlossener. Jetzt begreife ich, was ich ihnen zu verdanken habe. Die ganze Parade nur um meinetwillen! Ohne diese kleinen Bettler wäre ich heute wohl von den Bajonetten der deutschen Soldaten durchbohrt worden.
Vor den kaputten Stufen des Tempels stellen sie den Rattanstuhl ab, packen mich an den Armen und zerren mich in das Dunkel des Tempels hinein. Aus der Dunkelheit läßt sich eine Stimme vernehmen: »Habt ihr sie hergebracht?«
»Da ist sie, Gevatter Acht!« rufen im Chor die beiden Bettler, die mich am Arm gepackt halten.
Ich erkenne den Achten Zhu, der vor einem Tischchen steht, und mit einem
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