Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Welt, ganz gleich, ob sie Beamte oder einfache Leute sind, sind manchmal traurig. Nur für den Siebten Kleinen Hou scheint das nicht zu gelten, er singt unentwegt weiter:
»Stiefel auf dem Kopf,
Hut an den Füßen,
Ich singe mein verqueres Lied
– miau, miau –
Der Sohn feiert Hochzeit,
Die Mutter trägt Trauer,
– miau, miau –
Das Volk sitzt in der Sänfte,
Der Präfekt geht zu Fuß,
– miau, miau –
Die Mäuse jagen die Katzen,
Es schneit im August,
– miau, miau!«
Ich bin einen Moment lang verwirrt, dann fällt mir ein, daß morgen der fünfzehnte des achten Monats ist. Alljährlich feiert man am Vorabend dieses Tages in Gaomi das Fest der Bettler. An diesem Tag paradieren die Bettler die Straße vor dem Yamen der Präfektur auf und ab, dreimal hin, dreimal her. Beim ersten Mal singen sie Melodien der Katzenoper, beim zweiten Mal vollführen sie Kunststückchen, beim dritten Mal öffnen sie die Säcke, die sie an den Hüften tragen. Dann defilieren sie vom südlichen Ende der Straße bis zum nördlichen und lassen sich die Säcke portionsweise mit Reis und Nudeln füllen, die ihnen alte Mütterchen und junge Frauen vor ihrer Haustüre anbieten. Jedes Jahr, wenn sie bei mir vorbeikommen, werfe ich ihnen mit einem lauten Klimpern eine Reihe schmieriger Kupfermünzen, die ich in einem Bambusrohr aufbewahre, in die zersprungenen Kürbisschüsseln, woraufhin die durchtriebenen Kerle lauthals singen: »Danke, gute Patentante!«
Sie schauen mich mit leuchtenden Augen an. Ich weiß, wie gierig diese Kerle sind, und provoziere sie mit einem koketten Blick und einem auffordernden Lächeln mit halbgeöffnetem Mund, damit sie für mich wie die Äffchen durch die Straße turnen und Saltos machen. Dann laufen johlend die Kinder hinter ihnen her, und die ganze Nachbarschaft applaudiert. Mein Mann, Xiaojia, ist an diesem Tag noch aufgeregter als die Bettler selbst. Vor Sonnenaufgang ist er auf den Beinen, schlachtet kein Schwein und tötet keinen Hund, sondern läuft den Bettlern hinterher und macht Possen, singt und miaut kräftig mit. Den Gesang der Katzenoper bekommt mein Xiaojia nicht hin, aber sein Miauen kann sich hören lassen. Mal miaut er wie ein Kater, mal wie eine Katze, mal wie ein Kater, der eine Katze ruft, mal wie eine Katze, die ihre Jungen mahnt, und mal wie die verlassenen jungen Kätzchen, die nach der Mutter schreien. Und das so echt, daß es zum Gotterbarmen ist.
Mama! Das Unglück wollte, daß du früh gestorben bist. Deine Tochter hatte ein schweres Leben. Aber ein Gutes hatte der der Tod für dich: Du mußtest dir nicht ständig Sorgen um meinen Vater machen ...
Ich sehe, wie die Horde Bettler an den vor dem Yamen postierten, furchteinflößenden Soldaten vorbeitanzt. Der Siebte Hou singt die Katzenoper, die Bettlerschar läßt sich beim Miauen nicht aus dem Takt bringen. Am vierzehnten Tag des achten Monats spielen in Gaomi die Bettler die Hauptrolle. Selbst die Ehrengarde meines Patenonkels muß ihnen aus dem Weg gehen, falls sie die Parade kreuzt. Im vergangenen Jahr haben sie den Achten Zhu auf einem Rattanstuhl durch die Straßen getragen. Er hatte einen Papierhut auf dem Kopf und einen gestickten Drachen auf der Brust. Wenn das einfache Volk dergleichen wagte, würde man es sofort eines Komplotts bezichtigen und es mit dem Leben dafür bezahlen lassen. Doch wenn der Achte Zhu sich dergleichen erlaubt, dann passiert gar nichts, die Bettler haben das Recht, sich zum König zu machen, wen sie wollen . In diesem Jahr hat die Parade jedoch etwas Seltsames, die Bettlerschar trägt einen leeren Stuhl durch die Stadt, keine Spur vom Achten Zhu. Wo mag er hin sein? Warum ist er nicht hier, um sich auf seinem Thron die Ehre zu geben? Ist es nicht schließlich eine Ehre, wie sie sonst höchstens Beamten ersten Ranges erleben? Seltsam ist diese Parade heute! In mir tobt Unruhe. Was soll das, Leute?
Ich, Meiniang, ich bin in Gaomi zu Hause. Mit nicht einmal zwanzig wurde ich in die Kreisstadt verheiratet. Vorher trat ich mit der Operntruppe meines Vaters in allen Städten und Dörfern der Präfektur auf. Auch wenn die Stadt nicht gerade klein ist, kennt mich hier doch ein jeder. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Vater diese Bettler in der Kunst der Oper unterrichtete. Damals war ich noch sehr klein und hatte kaum Haare auf dem Kopf, so daß mich alle Welt für einen Jungen hielt. Mein Vater sagte immer, daß die Bettler und die Schauspieler eine Familie wären. Die Bettler
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