Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Bettlern, die unerschrocken in den Tod gingen, die Köpfe abgeschlagen wurden. Wie hasse ich die Unbeherrschtheit meines Vaters, die unseren Plan zunichte machte! Wenn dir dein eigenes Leben nichts wert ist, gut. Aber was ist mit dem Leben anderer? Die Bettler mußten ihr Leben lassen und ohne die Hilfe der gnädigen Frau wäre auch das Leben deiner Tochter zu Ende gewesen. Warum? Warum nur, Vater, sag mir, warum?
Verstohlen wie eine Katze eilt im Yamen hin und wieder ein Bediensteter über den Hof. Sofort sind sie wieder verschwunden. Doch Magister Dan behält seine Haltung bei, und mit ihm die Honoratioren und das einfache Volk. Alle knien unbeweglich auf dem Boden wie Götterstatuen. Im Yamen rührt sich nichts. Die Soldaten halten ihre Waffen im Anschlag und starren weiter grimmig drein, als könne der Feind jeden Moment angreifen. Herrn Dan beginnt der Schweiß zu laufen. Seine Hände beginnen zu zittern. Sein Gewand ist am Rücken schon ganz durchgeschwitzt. Im Yamen – Totenstille.
In der Menge ertönt plötzlich ein Klageschrei. Großmutter Sun ruft: »Gnade!«
Die Menge echot: »Gnade ....! Habt Gnade ...!«
Heiße Tränen rauben mir die Sicht. Durch den Tränenschleier hindurch sehe ich, daß alle den Kopf zum Kotau auf den Boden schlagen. Rings um mich herum gehen die Oberkörper der Leute auf und nieder, und man hört nur Wehklagen und das Aufschlagen der Köpfe.
Bis zur Mittagszeit verharrt die Bevölkerung der ganzen Stadt auf Knien vor dem Yamen. Schon dreimal ist die Wache abgelöst worden, aber niemand kam heraus, um die Petition, die Magister Dan hochhält, entgegenzunehmen. Seine Arme sinken immer tiefer, und sein Oberkörper beugt sich immer mehr nach vorn. Schließlich fällt er ohnmächtig zu Boden.
In diesem Moment hört man aus dem Yamen den ohrenbetäubenden Lärm von Trommelwirbeln. Dreimal werden Kanonen abgefeuert. Das große Tor öffnet sich knarrend, dahinter taucht eine Gruppe von Beamten auf, die im Hof vor dem Zeremonientor steht. Ich beachte die Soldaten mit ihren Tiger- und Wolfsgesichtern nicht mehr, ich ignoriere die Banner. Alles, was ich sehe, ist der Gefangenenkarren, neben dem Soldaten hergehen. Auf dem Karren sind zwei Käfige, in jedem Käfig steht ein Mann. Der eine ist mein Vater, Sun Bing. Der andere der Kleine Berg, der falsche Sun Bing.
Miau miau, miau miau! Mein Herz erstirbt in Traurigkeit ...
Kapitel 16:
Sun Bing spricht über das Theater
»Gut gut gut gut gut! Ein gutes Stück Theater hat begonnen!
Sun Bing wird in seinem Gefangenenkäfig durch die Straßen gekarrt,
die Sonne strahlt zum Mittherbstfest und erleuchtet die Erde.
In meinem Käfig stehend, sehe ich mich nach allen Seiten um,
sehe meine Landsleute in großen Gruppen rechts und links der Straße.
Mit lautem Getrommel wird der Weg freigemacht,
Hinter mir Soldaten zu Pferd.
Sie ziehen die Säbel, spannen die Bögen, schießen in die Luft.
Alle sind sie nervös, die deutschen Teufel und unsere Soldaten.
Und all das, weil letzte Nacht der Achte Zhu mit seinen Leuten ins Gefängnis kam,
um mit kluger List den Austausch des Gefangenen herbeizuführen.
Wäre ich nicht entschlossen gewesen, das Schafott zu besteigen,
dann würde jetzt, unbemerkt von allen, der Kleine Berg allein auf dem Karren stehen.
Achter Zhu, mein Bruder! Unwürdig habe ich mich dir erwiesen,
habe euch zur Gelben Quelle geschickt, bin schuld daran, daß eure Köpfe jetzt an auf der Mauer des Yamen zur Schau stehen.
Doch eure Namen werden nicht vergessen. Heilige werdet ihr sein!
Und wiederauferstehen als Helden der Katzenoper.«
Arie »Sun Bing zieht durch die Straßen«
aus der Katzenoper Die Sandelholzstrafe
1.
Die Hände des Achten Zhu halten wie eiserne Klauen meine Kehle gepackt, vor meinen Augen tanzen Sterne, meine Ohren dröhnen, meine Augäpfel treten hervor und meine Schläfen schwellen an ... ich weiß, daß ich mein Leben gleich ausgelebt haben werde. Aber nein, nein, ich kann so nicht sterben! Durch die Hand des Achten Zhu zu sterben wäre ein allzu jämmerlicher Tod. Ich bin ein Held, ich verdiene einen wahrhaften Heldentod. Bruder Zhu, ich verstehe, was in dir vorgeht. Du befürchtest, daß ich heulen und schreien werde wie ein Kind, wenn sie mich mit dem Sandelholzstab aufspießen. Du befürchtest, daß der Moment kommen wird, in dem ich nur noch sterben will und nicht sterben darf, in dem ich vielleicht weiterleben will und auch das nicht möglich sein wird. Deshalb willst du mich lieber
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