Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
erzählen an.
    »Zur Zeit der Ära Xianfeng standen ein Vater und ein Sohn auf der Himmelsbrücke in Beijing. Der Vater trug den Namen Katzen-Guo, der Sohn hieß Kleiner Katzen-Guo. Beide waren gute Stimmenimitatoren. Weißt du, was ein Stimmenimitator ist? Das ist jemand, der mit seiner Stimme alle Geräusche machen kann, die es auf Erden zu hören gibt.«
    »Können Stimmenimitatoren auch miauen?«
    »Wenn Erwachsene reden, redet man nicht dazwischen! Vater und Sohn übten also auf der Himmelsbrücke ihre Kunst aus und kamen schnell zu großem Ruhm. Zu dieser Zeit war ich, dein Vater, noch Neffe bei Großmutter Yu. Manchmal stahl ich mich davon, um zur Himmelbrücke zu laufen. Da waren schon eine Menge Leute versammelt. Ich war damals klein und mager und konnte mich ohne weiteres durch die Beine der Leute zwängen, die um einen kleinen Jungen auf einem Schemel herum standen. Er hielt einen Hut in den Händen. Hinter einem dunklen Vorhang hörte man einen Hahnenschrei, gefolgt von Hahnenschreien aus allen Richtungen von einer ganzen Reihe anderer Hähne. Darunter hörte man auch die Schreie von jungen Hähnen, denen die Federn noch nicht richtig gewachsen sind, bei ihren ersten Versuchen, ein Kikeriki zu krähen. Man hörte sie sogar mit den Flügeln schlagen. Dann hörte man eine alte Frau, die ihren Mann und ihren Sohn morgens aufweckt. Der Mann hustete und spuckte, klopfte die Pfeife aus, stopfte die Pfeife und zündete sie an. Man hörte den Sohn schnarchen. Dann die Stimme der mahnenden Mutter und wie er aufsteht, etwas murmelt, gähnt und nach seinen Kleidern tastet. Das Geräusch der Tür, des Sohnes, der in eine Ecke pinkelt, und dann, wie er sich das Gesicht wäscht. Man hörte, wie die Alte den Herd anmacht, das Wasser aufsetzt und den Blasebalg betätigt. Dann die Geräusche von Vater und Sohn, die ein Schwein einfangen. Das Quieken des sich windenden Schweins. Das Geräusch des Schweins, das die Tür des Kobens durchstößt und panisch durch den Hof rennt, dann das Umfallen eines Wassereimers, das Zerbrechen eines Nachttopfs. Dann das Geräusch des Schweins, das in den Hühnerstall eindringt, das Gackern der erschrockenen Hennen. Das Geräusch eines flatternden Huhns, das sich auf die Mauer niederläßt. Das Geräusch, wie der Junge das Schwein an den Hinterläufen packt. Wie der Vater dazukommt und das Schwein zusammen mit dem Jungen aus dem Hühnerstall ins Freie zieht, das Quieken des Schweins dabei. Das Geräusch des Zusammenbindens der Hinterläufe mit einem Seil. Das Geräusch, wie das Schwein von Vater und Sohn auf die Schlachtbank gelegt wird, wie es sich windet. Der Schlag, mit dem der Sohn das Schwein mit einem Stock betäubt, und wie es zusammensackt. Das Geräusch, wie der Sohn am Stein das Messer wetzt und der Vater das Becken für das Blut heranzieht. Wie der Sohn das Messer in den Hals des Schweins stößt. Das Blut schießt heraus und läuft in das Gefäß. Dann das Geräusch der Frau, die heißes Wasser bringt und wie alle drei eifrig dem Schwein die Borsten abschrubben. Das Geräusch, wie der Sohn dem Schwein den Bauch aufschlitzt und die Eingeweide herausholt. Ein Hund kommt und läuft mit dem Schweinedarm davon. Das Zetern der Frau, die den Hund schlägt. Das Geräusch, wie Vater und Sohn das geschlachtete Schwein aufhängen. Dann kommen Kunden, die Fleisch kaufen. Ein altes Mütterchen, ein alter Mann, eine Frau mit Kindern. Das Geräusch von Vater und Sohn beim Geldzählen, nachdem alles Fleisch verkauft ist. Das Geräusch, wie die Familie beisammensitzt und Reissuppe schlürft ... Und dann plötzlich wurde der Vorhang gelüftet, und die Zuschauer sahen, daß dahinter nur ein alter Mann mit verwittertem Gesicht saß. Die Menge spendete kräftigen Applaus. Der Junge erhob sich und machte mit seinem Hut die Runde. Die Münzen regneten nur so in den Hut hinein.
    Das habe ich mit eigenen Augen erlebt, nichts davon ist erfunden. Jedes Metier hat seinen Meister. Ist es nicht so?«

3.
    Nachdem er die Geschichte zu Ende erzählt hat, schließt mein Vater die Augen und lehnt sich zurück, um sich zu entspannen. Ich bin aber noch ganz berauscht von der Geschichte. Wieder eine Geschichte von Vater und Sohn! Ich habe das Gefühl, daß all die Vater-und-Sohn-Geschichten, die mein Vater erzählt, in Wirklichkeit von uns beiden handeln. Vater ist Guo senior, der Stimmenimitator, und ich bin Guo junior, der den Hut herumgehen läßt zum Geldeinsammeln  – miau, miau, miau ...
    Mein Vater ist

Weitere Kostenlose Bücher