Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
Funktionäre, miau, miau. Die Klasse meines Vaters hat sie trotzdem nicht. Der überwachende Beamte strafft sich. Er wird ein ganzes Stück größer. Aus seinen Augen sprühen grüne, zornige Funken, ein beunruhigender Blick. Sein Bart steht starr ab und seine Tigerzähne kommen zum Vorschein. Gut sieht das aus. Mit der hohen Stimme eines Opernsängers verkündet er: »Die Stunde ist gekommen ... Die Strafe werde ausgeführt!«
    Danach schrumpft sein Körper wieder ein Stück zusammen und auch sein Bart sieht wieder normal aus. Ein schöner Bart ist das! Auch wenn du deinen Namen nicht sagst, weiß ich doch, daß du Qian Ding bist. Auf deinem weißen Tigerkopf sitzt ein schwarzer Beamtenhut und du trägst eine rote Amtsrobe, unter der dein Schwanz versteckt ist. Deine Stimme habe ich sofort erkannt. Jetzt stellt er sich in gebeugter Haltung neben der Richtbank auf, allmählich verwandeln sich seine Gesichtszüge wieder in die eines Menschen. Sein Gesicht ist schweißüberströmt und er sieht bemitleidenswert aus. Noch einmal werden drei Kanonensalven abgefeuert, und der Boden unter mir erbebt. Bevor ich an der Seite meines Vaters zur Tat schreite, nutze ich den Moment, um mich kurz umzusehen und sehe, daß rund um den Richtplatz alles voller Menschen ist. Männer und Frauen, Alte und Junge. Einige zeigen ihre wahre Gestalt, viele sind noch dabei, sich zu verwandeln. Aus dieser Entfernung kann ich keinen vom anderen unterscheiden, kein Schwein, Hund, Schaf, Rind auseinanderhalten, sondern sehe nur eine große, schwarze Masse kleiner Köpfe unter der Sonne glänzen. Ich hebe den Kopf und wölbe die Brust, ich fühle mich großartig, miau, miau. Ich sehe an mir herab und bewundere meine brandneuen Kleider: Eine schwarze Mönchskutte, die ordentlich über die Schulter gelegt ist, ein großer, roter Hüftgürtel mit langen Quasten, schwarze, weite Kniehosen und hohe Hirschlederstiefel. Auf dem Kopf trage ich eine runde Kappe. Ich kann sie selbst nicht sehen, aber die anderen können sie sehen. Mein Gesicht und meine Ohren sind mit einer dicken Schicht Hühnerblut bedeckt. Die Blutkruste ist inzwischen ganz trocken und aufgesprungen und stört mich sehr, aber man muß so aussehen, das gehört zu unserer Tradition. Mein Vater sagt: Ohne Traditionen gibt es keine zivilisierte Gesellschaft. Er sieht inzwischen wieder ziemlich menschlich aus. Seine Hände und sein Gesicht erkenne ich wieder, doch seine Ohren sehen immer noch aus wie die eines Panthers, aufgestellt und transparent, mit kleinen Haarbüscheln besetzt. Vater richtet mir ein wenig die Kleidung und sagt mit leiser Stimme: »Hab keine Angst, mein Sohn. Du tust, was ich sage, sei tapfer und unerschrocken. Der Augenblick ist gekommen, in dem wir zeigen werden, was in uns steckt.«
    »Vater, ich habe keine Angst!«
    Er sieht mich mit einem zärtlichen Blick an und sagt leise: »Guter Junge!«
    »Vater, Vater, Vater, weißt du was? Die Leute sagen, ich und der Präfekt, wir löffeln aus dem gleichen Topf ...«

8.
    Ich habe gleich gesehen, daß auf dem Gefangenenkarren zwei Käfige stehen, und in beiden steckt jeweils ein Sun Bing. Auf den ersten Blick sehen die beiden Sun Bings einer wie der andere aus, wenn man aber genauer hinsieht, sind sie sich gar nicht so ähnlich. Denn einer der beiden Sun Bings ist ein schwarzer Bär und der andere ein schwarzes Schwein. Da mein Schwiegervater ein Held ist, kann er nur der Bär sein und nicht das Schwein. Die dreiundachtzigste Geschichte, die mir mein Vater erzählte, handelte vom Kampf zwischen einem schwarzen Bären und einem alten Tiger. In dieser Geschichte sind sich der Bär und der Tiger jedesmal ebenbürtig und der Kampf geht unentschieden aus, aber zum Schluß unterliegt der Bär, und zwar nicht, weil er zu schwach gewesen wäre, sondern weil ihm der Kampf zu wichtig war. Zwischen den Kämpfen, so erzählte mein Vater, jagte der Tiger Fasane, Schafe und Hasen, um seinen Hunger zu stillen, und trank frisches Wasser aus einer Bergquelle. Der Bär dagegen aß und trank nicht. Statt dessen kümmerte er sich darum, daß der Kampfplatz ordentlich aussah, und riß dort kleine Bäume aus, um den Platz zu vergrößern, denn der war ihm nie groß genug. Der Tiger kehrte jedesmal sattgefressen und erfrischt zum nächsten Kampf zurück. Zuletzt verließen den Bären die Kräfte und er wurde vom Tiger besiegt. Damit wurde der Tiger der König der Tiere.
    Außerdem kann ich meinen Schwiegervater sofort an seinem Gesichtsausdruck

Weitere Kostenlose Bücher