Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Vater ...
Er klemmt meinen Kopf zwischen seinen Knien ein und sagt: »Sieh nach oben, mein Junge.«
Ich hebe den Kopf und sehe das rührende Gesicht meines Vaters. Ich bin ein braver Sohn. Bevor ich einen Vater hatte, habe ich meiner Frau gehorcht. Seitdem er da ist, gehorche ich ihm. Plötzlich kommt mir meine Frau in den Sinn, die ich seit über einem Tag nicht gesehen habe. Wo sie wohl ist? Miau, miau ... Vater streicht mir mit seinen blutigen Händen über das Gesicht. Es hat einen unangenehmen Geruch, ganz anders als Schweineblut. Es gefällt mir gar nicht, was er da tut, aber mein Vater ist unerbittlich. Wenn ich nicht gehorche, dann wird er mich ins Yamen bringen lassen, wo sie mir den Hintern versohlen, einer, fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Schläge werden mir den Hintern aufreißen. Miau, miau, mein Vater taucht seine Hände noch einmal in das Blut und fährt mir über das Gesicht. Sogar die Ohren beschmiert er mit Blut. Und dann spritzt er mir, ich weiß nicht ob absichtlich oder unabsichtlich, das Blut in die Augen, bis sie brennen, miau, miau. Alles verschwimmt vor mir und wird zu einem roten Nebel. Miauend rufe ich: »Vater, ich bin blind!«
Ich reibe mir mit der Hand die Augen und miaue dabei weiter. Je mehr ich reibe, desto heller wird es, immer heller und dann ist plötzlich alles wieder klar. Aber o weh, o weh, miau, miau, der Tigerbart läßt wieder seine magischen Kräfte walten, miau, miau. Mein Vater ist verschwunden, und vor meinen Augen steht ein schwarzer Panther. Er steht auf seinen Hinterläufen und steckt die Vorderpfoten in die Schale mit dem Hühnerblut. Sie werden ganz rot und die Blutstropfen perlen daran herunter, es sieht aus, als hätte er sich verletzt. Er wischt sich mit den blutigen Pfoten über sein eigenes, pelziges Gesicht, bis es feuerrot ist wie ein Hahnenkamm. Ich wußte ja längst, daß mein Vater die Reinkarnation eines schwarzen Panthers ist, deshalb nehme ich das nicht so tragisch. Aber ich möchte nicht, daß der Tigerbart seinen Zauber so lange ausübt, es reicht völlig, wenn er es für einen Moment lang tut. Aber diesmal ist der Zauber sehr hartnäckig, miau, miau, mein Vater bleibt ein Panther. Das ist zwar lästig, aber da kann man nichts machen. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich gar keine Menschen mehr um mich sehe. Andererseits freut es mich, daß nur ich die wahre Natur meiner Mitmenschen erkenne. Ich sehe mich um. Die Soldaten auf dem Exerzierplatz haben sich in langschwänzige Wölfe und kurzschwänzige Hunde verwandelt, einige davon sind Marderhunde. Dann gibt es andere, die eine Mischung aus Wolf und Hund zu sein scheinen, zum Beispiel dieser Offizier. So etwas nennt man bei uns Hundebastarde. Sie sind verschlagener als Wölfe und bissiger als Hunde, und wer von ihnen gebissen wird, hat kaum Überlebenschancen, miau, miau.
Mein schwarzer Panther-Vater hat das ganze Blut über sein Gesicht verteilt und sieht mich jetzt aus seinen schwarzen, glänzenden Augen an. Er scheint mich anzulächeln, seine Lefzen öffnen sich und entblößen ein gelbliches Gebiß. Auch wenn sich seine Erscheinung stark verändert hat, kann man seine Gesten und seinen Gesichtsausdruck immer noch deutlich wiedererkennen. Ich lächele zurück, miau, miau. Er geht gewichtigen Schrittes zu seinem violetten Stuhl, wobei ihm sein Pantherschwanz die Hosen ausbeult. Er setzt sich auf den Stuhl, schließt die Augen und wirkt vollkommen ruhig. Ich schaue mich nach allen Himmelsrichtungen um und gähne laut, mi-a-au, setze mich hinter ihn auf ein Holzbrett und beobachte den Schatten der Plattform, der über den Boden kriecht. Während ich seinen Pantherschwanz in die Hand nehme, leckt mir mein Vater schmatzend mit seiner rauhen Zunge über den Kopf, miau, rrrhhh – ich schlafe ein.
Ein lautes Getöse läßt mich auffahren, miau, miau. Ich höre ein Durcheinander von ausländischen Trompeten und Trommeln, dazwischen dröhnt die Blaskapelle unserer Artillerie. Ich stelle fest, daß der Schatten der Plattform inzwischen ganz kurz geworden ist. Etwas Leuchtendes und Blendendes nähert sich dem Exerzierplatz von der Hauptstraße her. Keine Ahnung, wann die Kanonen am Rande des Platzes ihr grünes Kleid abgestreift haben – sie zeigen jetzt ihre blauglänzenden Kanonenrohre. Hinter jeder Kanone laufen vier Wölfe in Uniformen geschäftig hin und her. Wie viele Haare sie auf dem Körper haben! Wie Schildkröten recken die Kanonen ihre Hälse vor und spucken Feuerkugeln und nach jeder
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