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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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baden. Die in der Dämmerung zurückkehrenden Krähen fliegen über den Platz und lassen sich in den golden leuchtenden Baumkronen auf der linken Seite des Platzes nieder. Dort haben sie ihre Nester; dort ist ihr Zuhause. Werte Ältesten, liebe Landsleute, geht nach Hause! Ertragt euer Leben, ertragt alle Entbehrungen für euer Land, für eine große Sache. Ertragt geduldig wie die Lämmer euer Schicksal und werdet keine Aufrührer, das zahlt sich nicht aus. Seht euch Sun Bing an, den Patron eurer Katzenoper, der mit dem Sandelholzstock aufgespießt hier oben steht. Seine Tragödie soll euch ein warnendes Beispiel sein.
    Aber die Leute stellen sich taub gegen meine wohlmeinenden Ermahnungen. Sie drängen gegen die Plattform an, auf der Sun Bing steht, wie die Wellen gegen den Strand. Meine Wachen ziehen ihre Schwerter aus der Scheide und stellen sich ihnen entgegen wie dem Todfeind. Die Menge schweigt. Auf den Gesichtern der Leute liegt ein beängstigender Ausdruck, und ich spüre, wie ich nervös werde. Am Horizont geht die rote Sonne unter, im Osten geht der Mond auf. Die Wärme der letzten, goldenen Sonnenstrahlen und die frische Kühle des silbernen Mondlichts verweben sich ineinander auf dem Gelände der Tongde-Akademie, auf der Hochplattform, auf den Gesichtern der Leute.
    »Leute, geht auseinander, geht nach Hause ...«
    Die Menge verharrt schweigend.
    Plötzlich beginnt Sun Bing, der zwischenzeitlich verstummt war, aus voller Kehle zu singen. Luft entströmt seinem Mund, sein Brustkorb weitet sich rasselnd wie ein zerschlissener Blasebalg. Von seiner Position aus hat einen perfekten Überblick. Wie könnte ein Mensch seines Charakters, wenn er auch noch einen Laut zu produzieren in der Lage ist, sich eine solche Gelegenheit für eine Gesangsdarbietung entgehen lassen? Es ist, als hätte er nur darauf gewartet. Und mit einem Schlag begreife ich, daß den Leuten gar nicht daran gelegen ist, Sun Bing zu befreien. Sie wollen ihn singen hören! Seht euch nur an, wie sie dastehen, den Kopf in den Nacken gelegt, mit offenen Mündern  – wahre Freunde der Opernkunst.
    Am fünfzehnten des achten Monats leuchtet der Mond  – der Wind weht aus den Feldern herüber  –
    Sun Bing singt die »Arie der großen Trauer«! Nach dem vielen Schreien und Fluchen klingt seine Stimme rauh, doch gerade diese Rauheit in Verbindung mit seinem entstellten Körper bringt eine ungeahnte Wirkung hervor. Der tragische, verzweifelte Gesang erschüttert die Herzen der Zuhörer. Ich muß gestehen, daß unser Sun Bing, in einem abgelegenen Dorf in Gaomi geboren und aufgewachsen, ein wahres Genie ist, ein Held, eine Persönlichkeit, deren Biographie es verdiente, in die Geschichtsannalen Eingang zu finden, um ihr ein Denkmal für die Nachwelt zu setzen. Sein Name wird in den volkstümlichen Überlieferungen und in den Dramen der Katzenoper unsterblich werden. Man hat mir berichtet, daß sich kurz nach der Gefangennahme Sun Bings eine neue Katzenoperntruppe in Dongbei bildete, die sich zu den Trauerfeiern der Leute zusammenfand, die in diesen schwierigen Zeiten den Tod gefunden hatten. Jede ihrer Aufführungen begann und endete mit Klagegeschrei. Und in ihren Liedern verherrlichten sie Sun Bing als Held im Widerstand gegen die Deutschen.
    Eine grausame Folter erdulde ich, zerstört sind meine Eingeweide  – meine Tränen sprechen von dem Schmerz, den ich beim Anblick meiner Heimat leide  –
    Die Menge beginnt zu schluchzen, doch es mischen sich auch verzweifelte Katzenstimmen in das Geheul, als wollten die Leute Sun Bings Gesang auf angemessene Weise begleiten.
    Ich sehe mein Heimatland, Zorn flammt in mir auf  – ach, meine Frau, meine Kinder!
    Die Leute zu seinen Füßen werden sich zunehmend ihrer Rolle bewußt und beginnen in allen Klangfarben zu miauen. Dazwischen höre ich eine verzweifelte Klage, die wie dichter, weißer Rauch zum Himmel hinaufwirbelt: » Vater, ach Vater  – geliebter Vater ... «
    Es ist ein emotionaler Aufschrei, doch er fügt sich harmonisch in den großen Trauerchoral der Katzenoper ein und bildet die Gegenstimme in Sopran zu Sun Bings rauhen Gesang auf der Plattform oben und dem Miauen des Chors der Menge unten. Plötzlich ergreift mich ein heftiger Schmerz, als hätte mir jemand einen Schlag in die Brust versetzt  – sie ist es, meine Geliebte, Sun Bings Tochter Sun Meiniang. Auch wenn sie während der Anspannung der vergangenen Tage nur noch wie das Rauschen der welken Blätter im

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