Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
für dieses Land opfern und Sun Bings Leiden ein Ende setzen. Eine Leiche bekommt ihr von mir zur Eröffnung eurer Bahnlinie! Ihr sollt wissen, daß eure Züge über die Köpfe meiner toten Landsleute rumpeln.
Taumelnd gehe ich die Rampe zur Plattform hinauf. Diese Plattform ist Sun Bings Bühne, sie ist Zhao Jias Bühne – und sie ist meine, Qian Dings Bühne. Da oben hängt eine Laterne, auf der »Präfektur Gaomi« zu lesen ist. Ein paar Schergen stehen lustlos an der Seite und stützen sich auf ihre Schlagstöcke, wie tumbe Holzfiguren sehen sie aus. Unter der Lampe brennt ein kleines Herdfeuer, auf dem es aus einer dieser Schalen zur Herstellung chinesischer Medizin dampft und brodelt. Es riecht nach Ginseng. Daneben hockt Zhao Jia, dessen ledriges, dunkles Gesicht vom Herdfeuer angestrahlt wird. Er hat das Kinn in die Hände gestützt und starrt in die Flammen, wie ein Kind, das seinen Träumen nachhängt. Hinter ihm sitzt Xiaojia, der selbstzufrieden und ungeniert schmatzend Sesamfladen mit Hammelfleisch ißt. An einem Pfosten ihm gegenüber lehnt Sun Meiniang, ihr Kopf hängt schief auf ihrer Brust und ihr Gesicht ist halb von ihrem gelösten Haar bedeckt. Sie sieht aus wie eine Tote, all ihr einstiger Liebreiz scheint dahin. Keiner dieser drei scheint zur Kenntnis zu nehmen, daß ich da bin. Hinter der Gaze sehe ich das Gesicht Sun Bings und das Stöhnen seiner tiefen Stimme verrät mir, daß er immer noch unter fürchterlichen Qualen dahinsiecht. Sein Gestank zieht die Nachtvögel an, die lautlos über ihm Kreise ziehen und nur ab und zu ein jähes Krächzen von sich geben. Ach, Sun Bing, du hättest längst sterben sollen. »Miau, miau«. So viele widersprüchliche Gefühle hat eure Katzenoper in mir hervorgerufen, und ich habe plötzlich den Drang, meine Stimme zu erheben. »Miau, miau.« Sun Bing, es ist alles meine Schuld. Ich bin halbherzig, schwach und unentschlossen, und habe deshalb ihre Pläne nicht durchkreuzt. Ich habe dich leben lassen und dich ihnen als den Köder überlassen, der ihnen ein zweites Mal mein Volk vor die Flinte geliefert hat. Jetzt haben sie den Samen der Katzenoper völlig vernichtet, miau, miau ...
Mein Wehklagen hat die Wachen alarmiert und ich sage ihnen, sie sollen nach Hause gehen und sich ausruhen, ich würde mich hier schon selbst um alles kümmern. Sie wirken erleichtert und machen sich, offenbar fürchtend, daß ich es mir anders überlegen könnte, so rasch aus dem Staub, daß sie binnen weniger Augenblicke in der Nacht verschwunden sind.
Sie haben auf meine Ankunft gar nicht reagiert, als sei ich nur ein leerer Schatten oder einfach nur ein Komplize. Und da haben sie recht. Ich bin nur mehr ein Komplize, ein grauer Mittäter. Gerade bin ich am überlegen, wen ich zuerst mit meinem Messer erstechen soll, da gießt Zhao Jia die Ginsengbrühe in eine schwarze Schale und sagt zu seinem Sohn: »Hast du fertig gegessen, Sohn? Wenn du noch nicht fertig bist, iß später weiter. Jetzt hilf mir, ihm die Ginsengsuppe zu geben.«
Xiaojia steht gehorsam auf. Nach den Ereignissen des vergangenen Tages scheint auch dieser Kerl etwas von seiner Affigkeit eingebüßt zu haben. Er grinst mich breit an, dann öffnet er den Gazevorhang und entblößt Sun Bings inzwischen stark ausgemergelten Körper. Ich kann sehen, in was für einem erbärmlichen Zustand er ist; seine Augen treten riesenhaft aus den Höhlen, an den Flanken kann man jede einzelne Rippe zählen. Er erinnert mich an einen vertrockneten Frosch, den ein paar niederträchtige Lausbuben an einem Baum festgebunden haben.
In diesem Moment kommt Leben in Sun Bing. Aus seinem einer dunklen Höhle gleichenden Mund dringen undeutlich die Worte: »Uh ... uh ... laßt mich doch sterben ... laßt mich sterben ...«
Es trifft mich wie ein Schlag. Er will also selbst nicht mehr leben und hat endlich erkannt, daß weiterzuleben ein Fehler wäre. Wenn ich ihn ersteche, gehorche ich nur seinem eigenen Willen.
Xiaojia steckt ihm ohne Umschweife einen Trichter aus Rinderhorn, wie man sie normalerweise benutzt, um Tieren Medizin einzuflößen, in den Mund. Dann hält er Sun Bings Schädel fest, während Zhao Jia ihm mit ruhiger Hand die Ginsengbrühe einflößt. Sun Bing stammelt etwas, man hört es in seiner Kehle gluckern, und im Handumdrehen ist die Schale leer.
»Wie steht's, Zhao Jia?« frage ich mit gespielter Kaltblütigkeit. »Wird er bis morgen vormittag überleben?«
Zhao Jia dreht sich alarmiert um und antwortet mit
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