Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
dröhnt mir der Donner des zweiten Kugelhagels in den Ohren, als ob sie schon vor dem Zielen abgedrückt hätten, als ob die Leute auf der Bühne schon von den Kugeln getroffen worden wären, bevor der Knall der Schüsse zu hören gewesen war.
Auf der Bühne ist keine lebende Person mehr, man sieht nur noch das Blut fließen. Die Leute auf dem Platz scheinen endlich aus ihrer Trance erwacht zu sein, mein armes Volk ... In sie gerät Bewegung, sie laufen, drängen, werfen einander um, stoßen Wolfsgeheul und Dämonengeschrei aus, es herrscht ein heilloses Durcheinander. Ich sehe besorgt zu den deutschen Soldaten hin, doch diese haben die Waffen abgelegt, auf ihren unglaublich langen Gesichtern erscheint ein kühles Lächeln, immerhin ein Lächeln, wie ein warmer roter Sonnenstrahl an einem eiskalten, nebligen Wintertag. Sie schießen nicht mehr, dem Himmel sei Dank, wieder fühle ich diese Mischung aus Trauer und Freude. Diesmal weiß ich, woher sie rührt: Trauer darüber, daß die letzte Katzenoperntruppe Dongbeis bis auf den letzten Mann ausgelöscht worden ist. Freude darüber, daß die Deutschen nicht weiter auf die fliehende Bevölkerung schießen. Freude? Präfekt von Gaomi, bist du wirklich noch in der Lage, dich zu freuen? Doch, ich freue mich, und wie ich mich freue!
Zwei hölzerne Regenrinnen in Drachenform füllen sich mit Blut, das sie auf die Erde ausspucken. Das Blut fließt langsam auf die Drachenmünder zu, dann fällt ein Tropfen, noch einer, große Tropfen, kostbare, schwere Tropfen ... wie die Tränen des Himmelsdrachens.
Das Volk ist geflohen, auf dem Platz sind nur unzählige Schuhe und zerfetzte Katzenkostüme zurückgeblieben. Und die Leichen von Leuten, die in dem Chaos zu Tode getrampelt worden sind. Ich starre unvermindert auf die beiden Drachenköpfe, aus denen das Blut tropft, schaue zu, wie es herabtropft, ein großer Tropfen, noch einer ... das ist kein Blut. Es sind die Tränen des Himmelsdrachens. Bestimmt.
9.
Als der Mond des neunzehnten Tages des achten Monats aufgeht, komme ich aus dem Yamen. Ich bin auf dem Weg zurück zum Exerzierplatz. Kaum sind wir draußen, muß ich Blut spucken. Ich habe einen seltsamen Geschmack im Mund, als hätte ich zuviel Süßes gegessen. Liu Pu und Chunsheng fragen teilnahmsvoll: »Ist alles in Ordnung, Exzellenz?«
Ich sehe sie an, als wäre ich gerade aus einem Traum erwacht, und frage sie zweifelnd: »Warum folgt ihr mir noch? Geht, geht fort, ihr braucht mir nicht zu folgen!«
»Exzellenz ...«
»Habt ihr nicht gehört? Geht, macht euch davon, je weiter weg, desto besser. Ich will euch nicht mehr sehen, wenn ihr nicht sofort verschwindet, breche ich euch das Genick!«
»Aber Exzellenz ... Exzellenz ... habt Ihr den Verstand verloren?« fragt Chunsheng in weinerlichem Ton.
Ich ziehe Liu Pu das Schwert aus der Scheide. Das Mondlicht spiegelt sich auf der Klinge, die einen kalten Glanz abwirft. Ich sage barsch: »Wenn der Vater stirbt, heiratet die Mutter einen anderen, am Ende ist sich jeder selbst der Nächste. Wenn euch unsere langjährige Freundschaft noch etwas wert ist, dann geht. Nach dem Zwanzigsten könnt ihr wiederkommen und Euch um meine Leiche kümmern.«
Als ich das Schwert zu Boden werfe, erschüttert der metallische Klang den Nachthimmel. Chunsheng geht ein paar Schritte rückwärts, dann dreht er sich um und läuft, erst ganz langsam, dann immer schneller, und mit einemmal ist er spurlos verschwunden. Liu Pu läßt den Kopf hängen, wie ein Idiot steht er da.
»Worauf wartest du noch?« frage ich. »Beeil dich, pack deine Sachen und geh zurück nach Sichuan. Versuch dort anonym zu bleiben, pflege das Grab deiner Eltern und sieh zu, daß du nie wieder mit Beamten zu tun hast.«
»Onkel ...«
Dieses Wort, Onkel, öffnet bei mir alle Schleusen. Ich breche in Tränen aus und bedeute ihm mit der Hand, daß er sich fortscheren soll: »Geh und paß auf dich auf, es gibt für dich hier nichts mehr zu tun.«
»Onkel«, sagt Liu Pu, »Euer dummer Neffe hat in den vergangenen Tagen nachgedacht, und ich schäme mich zutiefst. Daß es soweit gekommen ist, ist ganz allein meine Schuld ...« Er fährt verbittert fort: »Ich habe mich damals maskiert, um Sun Bing den Bart auszureißen. Und weil ich ihm den Bart ausgerissen habe, hat er die Operntruppe verlassen und sein Leben mit Kleiner Pfirsich begonnen. Hätte er nicht Kleiner Pfirsich geheiratet, dann hätte er auch nie den deutschen Ingenieur erschlagen. Und hätte er den Deutschen
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