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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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schon die ganze Zeit auf der oberen Tribüne gestanden hatte: »Seine Majestät, der Kaiser ...!«
    Die ganze Reihe roter und blauer Hüte vor der Tribüne warf sich auf den Boden. Man hörte nur das Rascheln ihrer langen Hufeisenärmel. Im Bruchteil einer Sekunde lagen alle hohen Beamten der sechs Ministerien, die Palastdamen und die Eunuchen auf den Knien. Als ich, dein Vater, es ihnen gleichtun wollte, versetzte mir jemand einen heftigen Tritt. Die Großmutter. Strahlend wie ein Leuchtfeuer stand der alte Mann mit gerecktem Haupt neben dem Pfahl, starr wie eine Statue. Ich nahm mich zusammen und besann mich auf die Etikette unseres Berufsstandes. Zu allen Zeiten ist es so gewesen, daß die Scharfrichter, deren Gesichter mit Hühnerblut bemalt waren, nicht mehr als Menschen galten, sondern als göttliche Verkörperung des heiligen und erhabenen Gesetzes. Nicht einmal im Angesicht Seiner Majestät des Kaisers beugten wir die Knie. Gemäß dem Vorbild der Großmutter nahm dein Vater also die Schultern zurück, zog den Bauch ein und stand ebenfalls still wie eine Statue. Diese Ehre, mein Sohn, wurde niemand anders zuteil, niemandem in der Präfektur Gaomi, niemandem in der Provinz Shandong und niemandem im ganzen unermeßlichen Kaiserreich.
    Langsam hörte man das Pfeifen und Posaunen der Blasinstrumente näher kommen. Zuerst vernahm man nur die Klänge der langsamen, feierlichen Musik, dann tauchte zwischen den hohen Mauern die Ehrengarde mit den Bannern der kaiserlichen Dynastie auf. Ihr voran schritten zwei kamelhaarfarben gekleidete Eunuchen, die ein Räuchergefäß in Form eines glückverheißenden Tieres vor sich her trugen, aus dessen Maul schwarze Rauchringe aufstiegen. Welch ein Geruch! Ein Geruch, der schleichend in das Gehirn drang, ein Geruch, der einem die Sinne zu schärfen und im nächsten Moment das Bewußtsein zu trüben vermochte. Hinter den Eunuchen, die das Räuchergefäß trugen, marschierte das kaiserliche Orchester, hinter diesem wiederum zwei Reihen mit Eunuchen, die ein gelbrotes Meer aus Bannern, Schirmen und Fächern bildeten. Noch weiter hinten schritt die Leibgarde des Kaisers, bewehrt mit kürbisgoldenen Streitäxten, kupfernen Hiebwaffen und silbernen Speeren. Schließlich erschien die leuchtendgelbe kaiserliche Sänfte, getragen von zwei großgewachsenen Eunuchen, in der Seine Majestät, der Kaiser des Qing-Reiches, thronte. Zwei Palastdamen mit großen Pfauenfedernwedeln folgten dicht dahinter. Danach kam ein herrlicher Schwarm herausgeputzter Schönheiten, bei denen es sich natürlich um die Konkubinen seiner Majestät handelte, jede in einer eigenen Sänfte. Es war, als betrachtete man ein wanderndes Blumenbeet. Dahinter erstreckte sich noch ein langer Schwanz von Fußvolk. Später erklärte mir die Großmutter, daß die Zahl der Banner und der Waffen innerhalb des Palastes noch klein sei. Erst bei einer Zeremonie außerhalb der Palastmauern sei der Zug so lang, daß man den Kopf und den Schwanz des heiligen Drachen nicht gleichzeitig sehen könne. Allein für die kaiserliche Sänfte stünden vierundsechzig Träger bereit.
    Die Eunuchen waren gut gedrillt. Jeder war in Sekundenschnelle auf seinem Posten. Auch der Kaiser, die Kaiserin und die Konkubinen hatten bereits oben auf der Tribüne Platz genommen. Kaiser Xianfeng in der Drachenrobe und mit der goldenen Krone auf dem Haupt saß etwa drei Meter von mir entfernt. Daher konnte ich, dein Vater, auch wenn ich nur geradeaus blickte, die Gesichtszüge Seiner Majestät sehr deutlich wahrnehmen. Sein Antlitz war schmal und er hatte eine hohe Nase. Sein linkes Auge schien größer zu sein als das rechte. Über seinem großen Mund mit den blendendweißen Zähnen hing ein kunstvoller Schnauzbart herab; sein Kinn zierte ein kleiner Ziegenbart. Auf den Wangen entdeckte ich helle Pockennarben. Er hustete unablässig und spuckte in einem fort in einen goldglänzenden Spucknapf, den eine der Palastdamen vor ihn hinhielt. Wie die Flügel eines Phönix breiteten sich zu seiner Rechten und Linken jeweils ein Dutzend Schönheiten aus, geschmückt mit reichverzierten Diademen voll farbenprächtiger Blumen und Seidenquasten, ähnlich denen, die ihr auf der Opernbühne zu tragen gewohnt seid. Jedes dieser Mädchen hatte das Gesicht einer frisch erblühten Rose und es ging ein betörender Duft von ihnen aus. Gleich rechts neben dem Kaiser saß eine Schönheit mit ebenmäßigen Gesichtszügen, vollkommenem, weißem Teint und zinnoberroten Lippen  –

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