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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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die Erscheinung einer Göttin, die sich unter die Sterblichen begeben hat. Wißt ihr, wer das war? Ihr werdet es nicht glauben: Es war Cixi, die heutige Kaiserinwitwe.
    Den Moment, den das Spucken des Kaisers in Anspruch nahm, nutzte der würdevoll auf der Bühne stehende Eunuch, um seine Peitsche zu schwingen. Es klang wie eine Fliegenklatsche. Die hohen Beamten der sechs Ministerien und die große dunkle Menge aus Eunuchen und Hofdamen, die am Fuße der Tribüne auf dem Boden knieten, riefen sofort mit einer Stimme und mit der Kraft eines Kindes, das an der Brust saugt: »Lang lebe unser Kaiser! Er lebe hoch! Hoch! Hoch!«
    Da erst verstand ich, dein Vater, daß all diese unterhalb der Tribüne Knienden, die nicht aufzublicken wagten, natürlich dennoch die geringste Bewegung über ihnen wahrnahmen.
    Hustend sagte der Kaiser: »Die Würdenträger mögen sich erheben!«
    »Dank sei der Gnade Seiner Majestät des Kaisers!«, erwiderten darauf die hohen Beamten im Chor und machten abermals einen Kotau. Nach einem weiteren Kotau richteten sie sich auf, schwangen ihre hufeisenförmigen Ärmel und gingen gebeugt zwei Schritte rückwärts, um sich in die Reihen rechts und links der Ehrentribüne einzuordnen.
    Der Justizminister, Seine Exzellenz Wang, löste sich aus der Reihe, schwang die Hufeisenärmel zurück, kniete nieder, machte einen Kotau und deklamierte in feierlichem Ton: »Ich, Euer Untertan, der Justizminister Wang Rui, habe auf kaiserlichen Befehl den ›Riegel des Höllenkönigs‹ schmieden lassen und zudem zwei erfahrene Scharfrichter ausgewählt, um mit diesem Instrument im kaiserlichen Palast die Folter auszuführen. Ich bitte Eure Majestät um Instruktionen.«
    »Wir haben es zur Kenntnis genommen. Steht auf«, befahl der Kaiser.
    Seine Exzellenz Wang machte einen Kotau, dankte für den Gnadenerweis und zog sich wieder zurück. Der Kaiser sagte etwas. Aber aufgrund der Kurzatmigkeit Seiner Majestät verstand niemand seine Äußerung. Er war offensichtlich an Tuberkulose erkrankt. Der alte Eunuch auf der Bühne stieß einen langgezogenen Ton aus und hob zu einem Singsang an, der einer Opernrezitation glich: »Seine Majestät befiehlt  – der Justizminister Wang Rui  – möge ihm den ›Riegel des Höllenkönigs‹ zur Begutachtung vorlegen.«
    Seine Exzellenz Wang hastete eilig zu mir, deinem Vater, empfing aus meiner Hand den in rote Seide eingeschlagenen »Riegel des Höllenkönigs«, und trug ihn so behutsam, als handelte es sich um einen kochendheißen mongolischen Feuertopf, zur Tribüne. Dort kniete er nieder, streckte seine Arme weit über den gebeugten Kopf nach oben und präsentierte ihn so dem Kaiser. Der alte Eunuch beugte sich herab, um ihn in Empfang zu nehmen, und legte ihn auf einen Tisch vor den Kaiser, wo er vorsichtig den roten Seidenstoff zur Seite schob. Das gute Stück strahlte in blendendem Glanz und flößte in der Tat Ehrfurcht ein. Wenn es auch nicht viel gekostet hatte, so hatte ich, dein Vater, doch meine liebe Mühe damit gehabt. Als es frisch aus der Schmiede kam, war es nämlich schwarz und häßlich wie die Nacht gewesen. Erst nachdem dein Vater es drei volle Tage lang mit Schmirgelpapier poliert hatte, erhielt es seinen Glanz. Ich wollte meine siebzig Pfund Silbergeld nicht umsonst bekommen haben.
    Der Kaiser streckte seine bräunliche Hand aus und berührte mit dem langen, gelben Nagel seines Zeigefingers das Gerät. Doch ob das Metall ihm zu heiß oder zu kalt war  – seine goldene Fingerspitze schreckte sofort wieder zurück. Ich hörte den alten Herrn wieder etwas Unverständliches murmeln, worauf der alte Eunuch den »Riegel« jeder einzelnen der kaiserlichen Konkubinen vorlegte. Auch die Damen streckten nur vorsichtig ihre Fingerspitzen nach dem polierten Gegenstand aus und berührten ihn ganz leicht mit ihren sehr spitzen, edlen Jadehänden  – dabei taten sie so, als hätten sie Angst, und wandten geziert die Köpfe ab, ohne daß sich ihre apathischen Mienen groß veränderten. Schließlich übergab der Eunuch das Folterinstrument wieder dem unverändert vor der Tribüne knienden Justizminister, der es ehrfürchtig entgegennahm, sich erhob und unter Verbeugungen rückwärts ging, bis er bei mir ankam und es mir zurückgab.
    Ich sah, wie der alte Eunuch sich auf der Tribüne zum Kaiser beugte und etwas fragte, worauf Seine Majestät mit einem leichten Kopfnicken antwortete. Der Eunuch kam nach vorne und sagte mit singender Stimme: »Seine Majestät der

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