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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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sie an den Kerzen und steckte sie in das Räuchergefäß auf dem Altar des Schutzgottes. Er kniete nieder, und wir drei Schüler folgten seinem Beispiel. Mit leiser Stimme murmelte er: »Verehrter Schutzpatron, heute begeben wir uns an den Kaiserhof, um eine Strafe auszuführen. Uns ist eine schwere Verantwortung auferlegt. Deshalb bitten wir Euch, unseren Ahnherrn, um Euren Schutz und Beistand, auf daß wir unsere Sachen gut machen.«
    Er schlug die Stirn auf den schwarzen Ziegelboden und wir taten es ihm gleich. Im Schein der Kerzen erstrahlte das Antlitz des Schutzpatrons in glänzendem Rot. Wir machten jeder neunmal einen Kotau, dann erhoben wir uns mit der Großmutter und gingen drei Schritte rückwärts. Zweite Tante rannte nach draußen und kam mit einer Porzellanschale in der Hand zurück. Auch Kleine Tante rannte nach draußen und kam zu meiner Überraschung mit einem Hahn mit schwarzem Kamm und weißen Federn in der Hand zurück. Zweite Tante stellte die Schale auf den Altar des Schutzpatrons und kniete nieder, während die Kleine Tante den Hals des Hahns langzog. Zweite Tante nahm ein weidenblattförmiges, kleines Messer aus der Porzellanschale und zog es flink über den Vogelhals. Als zunächst kein Blut lief  – ein böses Omen!  – begannen unsere Herzen wie wild zu pochen. Doch im nächsten Moment spritzte das dunkelrote Blut mit einem Schwall in die Porzellanschale. Die Venen dieser Art von Hähnen sind besonders kräftig, daher nehmen wir diese, um sie vor der Ausführung von wichtigen Strafen zu opfern. Als die Schale gefüllt war, stellten wir sie auf den Altar des Schutzpatrons und warfen uns noch einmal auf die Knie. Die Großmutter tauchte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand in das Hühnerblut und malte sich damit, wie ein Schauspieler, das Gesicht an. Das Blut von Hähnen ist so heiß, daß man sich fast die Finger daran verbrennt. Wir verbrauchten das gesamte Blut des Hahns, um uns beiden die Gesichter anzumalen. Mit dem Rest des Blutes färbten wir auch unsere Hände. Schließlich war mein Gesicht so rot wie das von Großmutter Yu und das von Schutzpatron Gao Tao. Warum taten wir das? Zum einen sahen wir nun unserem Schutzgott ähnlich. Wir ließen aber auch alle ruhelosen Gespenster und bösen Dämonen wissen, daß wir die Nachfahren Gao Taos sind  – bei der Ausführung der Todesstrafe verkörpern wir das Gesetz des Staates selbst. Nachdem all das geschehen war, setzten wir uns ruhig auf unsere Hocker und warteten darauf, daß wir in den Palast gerufen würden.
    Rot ging die Sonne auf. Auf den Schnurbäumen im Hof krächzten heiser die Krähen. Im kaiserlichen Gefängnis hörte man eine Frau bittere Tränen weinen, eine Frau, die ihren Mann ermordet hatte und ihrer Strafe harrte. Jeden Tag heulte sie sich die Seele aus dem Leib, flehte Himmel und Erde an und jammerte um ihre Kinder, als wäre sie schon nicht mehr recht bei Verstand. Ich, dein Vater, war noch recht jung und wurde schnell nervös. Unruhig rutschte ich auf dem Hocker hin und her. Verstohlen blickte ich zur Großmutter hinüber, die aufrecht dasaß wie eine gußeiserne Glocke. Ich bemühte mich, es ihr gleichzutun, ruhig und konzentriert zu atmen und meinen Geist zu sammeln. Das Hühnerblut auf unseren Gesichtern war inzwischen getrocknet, wir sahen aus wie kandierte Äpfel. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit ganz auf das Gefühl des Eingeschlossenseins unter der Kruste auf meinem Gesicht. Allmählich fiel ich in eine tiefe Meditation und ging in meiner Vorstellung mit der Großmutter durch verworrene, unterirdische Gänge. Wir liefen nebeneinander, liefen, ohne an ein Ziel zu gelangen ...
    Dann stand plötzlich Generalsekretär Cao, der Oberste Gefängnisverwalter, vor uns. Er führte uns zu zwei kleinen Sänften, mit blaugrünen Vorhängen und bedeutete uns mit einer Handbewegung, darin Platz zu nehmen.
    Ich war völlig perplex. Hatte ich doch bis zu jenem Tag noch nie in einer Sänfte gesessen! Ich schaute nach der Großmutter, doch auch mein Meister schien ganz benommen zu sein und rührte sich nicht vom Fleck. Ein alter Träger mit Doppelkinn, der bei der Sänfte stand, sprach uns mit rauher Stimme an: »Was ist los? Sind euch die Sänften zu klein oder was?«
    Wir wagten noch immer nicht, einzusteigen und blickten Seine Exzellenz Cao an. Der sagte: »Ihr braucht nicht zu meinen, daß euch eine besondere Ehre zuteil wird, wir wollen bloß nicht zu viel Aufsehen erregen. Was zögert ihr noch? Los, rein in die

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