Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
gebärden. Bei Hof hat man den Deutschen den Bau der Eisenbahn bewilligt, was mischt sich dein Vater da ein? »Der Zimmermann, der sich ein Joch anpaßt, muß selbst sehen, wie er es wieder abschüttelt«, heißt das. Ganz abgesehen davon, daß du ihn nicht wirst retten können. Und auch dein Herr Präfekt Qian Ding wird ihn nicht retten können. Mein Sohn, unsere Stunde ist gekommen, jetzt treten wir auf den Plan. Eigentlich wollte sich dein Vater die Hände im goldenen Waschbecken waschen, sich inkognito aufs Altenteil zurückziehen und in seiner Heimat alt werden und sterben, aber der Himmel scheint andere Pläne zu haben. Als mir heute früh plötzlich die Hände brannten, da wußte dein Vater, daß sein Werk noch nicht vollendet ist. Schwiegertochter, deine Tränen nützen nichts und ebensowenig dein Haß. Mir ist von unserer Kaiserinwitwe soviel Gnade zuteil geworden, daß ich nicht wagen würde, mich dem Willen des Hofes zu widersetzen. Wenn ich deinen Vater nicht töte, dann wird es ein anderer tun. Und bevor ich diese Arbeit irgendwelchen dahergelaufenen Stümpern überlasse, erledige ich sie lieber selbst. Heißt es nicht ›eigen Blut versteht sich gut‹? Ich kann hier die ganze Erfahrung meines Lebens zum Einsatz bringen und ihn eines so glorreichen und spektakulären Todes sterben lassen, daß er als Held in die Geschichte eingehen wird. Und dir, mein Sohn werde ich das Tor zu neuen Möglichkeiten aufstoßen. Ich werde dafür sorgen, daß die Nachbarn die Augen aufreißen. Sie verachten mich? Na schön, ich werde ihnen zeigen, daß die Arbeit eines Henkers eine Kunst ist, eine Kunst, an die sich ein braver Mann nicht wagt und die ein schlechter Mann nicht in der Lage ist auszuführen. Darin liegt die Quintessenz der kaiserlichen Macht. Wenn unsere Arbeit floriert, dann gedeiht der Hof, wenn sie versagt, dann ist es mit der kaiserlichen Macht vorbei.
Mein Sohn, da die Sänfte Seiner Exzellenz Qian noch nicht eingetroffen ist, nutze ich die Gelegenheit, um dir etwas über unsere Familie zu erzählen. Ich muß es heute tun. Später wird es, fürchte ich, keine Möglichkeit mehr dazu geben.
3.
Als ich, dein Vater, zehn Jahre alt war, erkrankte dein Großvater an der Cholera. Er erkrankte am Morgen, und mittags war er schon tot. In jenem Jahr hatte in Gaomi jede Familie Tote zu betrauern, es herrschte überall Jammern und Wehklagen. Die Nachbarn hatten keine Zeit füreinander. Jeder hatte genug damit zu tun, seine eigenen Toten zu beerdigen. So mußten meine Mutter und ich, ich muß jetzt etwas Häßliches sagen, deinen Großvater wie einen toten Hund hinter uns her zu den schnell ausgehobenen Gruben schleifen, wo wir ihn ohne Zeremonie verscharrten. Als wir kehrtmachen wollten, sahen wir ein Rudel wilder Hunde, die sich daranmachten, den Leichnam deines Großvaters wieder auszugraben. Ich nahm einen Ziegelstein und wollte mich auf sie stürzen. Die wütenden Köter starrten mich mit rotunterlaufenen Augen an, zeigten mir ihre weißen Fangzähne und knurrten und bellten. Sie waren wild auf die Kadaver. Sie waren wie Tiger, grausam und furchteinflößend. Deine Großmutter zog mich fort: »Mein Sohn«, rief sie, »dein Vater ist nicht der einzige, dem es so ergeht, laß sie gewähren.«
Ich wußte, daß man gegen wildgewordene Hunde nur schwer ankam. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich zurückzuziehen und zuzusehen, wie sie deinem Großvater die Kleider vom Leib rissen, wie sie ihm die Zähne ins Fleisch gruben, seine inneren Organe verschlangen und am Ende an seinen Knochen nagten.
Es vergingen fünf Jahre und im Landkreis Gaomi grassierte der Typhus. Deine Großmutter erkrankte am Morgen, und mittags war sie tot. Diesmal schleifte ich sie zu einem Strohhaufen, auf den ich sie bettete und verbrannte. Damit wurde dein Vater zu einem Waisenkind. Ich war ganz auf mich allein gestellt. Am Tag zog ich von Tür zu Tür, um mir ein paar Wurzeln oder auch einmal einen Kürbis zum Essen zu erbetteln. Nachts schlief ich in einen Heuhaufen oder einem leeren Futtertrog, was immer ich fand. Zu jener Zeit war die Zahl solcher kleinen Bettler wie ich Legion und so war es nicht leicht, etwas zwischen die Zähne zu bekommen. An manchen Tagen klopfte ich an Hunderte von Türen, ohne auch nur ein Stück getrockneten Kürbis zu ergattern. Als ich schon den Hungertod vor Augen hatte, erinnerte ich mich an die Worte deiner Großmutter, die einmal von einem Cousin väterlicherseits erzählt hatte, der im großen
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