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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Yamen der Hauptstadt diente und offenbar kein schlechtes Leben führte, denn er konnte uns öfters durch einen Boten Geld schicken. So beschloß dein Vater, sich in die Hauptstadt aufzumachen, um diesen Verwandten zu suchen.
    Unterwegs schlug ich mich mit Betteln und kleinen Gelegenheitsarbeiten durch. Ich lebte in den Tag hinein, war einmal hungrig und einmal satt. Schließlich kam ich an. Einer Gruppe von Weinverkäufern folgend, zog dein Vater durch das Tor der Höchsten Gelehrsamkeit in die Hauptstadt Beijing ein. Ich erinnerte mich vage daran, von meiner Mutter gehört zu haben, daß der Cousin beim Tribunal des Justizministeriums angestellt sei. So fragte ich mich bis zu den Sechs Ministerien durch und fand auch das Justizministerium. Vor dem Tor waren große und starke Soldaten mit Schwertern postiert. Als ich mich näherte, wurde ich von einem von ihnen gleich drei Meter weiter weg befördert. Ich war nun den ganzen weiten Weg bis hierher gekommen, sollte ich da so einfach aufgeben? So lungerte ich also den ganzen Tag lang vor den Toren des Justizministeriums herum. Das Gebäude lag an einem breiten Boulevard, der von feinen Restaurants mit majestätischen Fassaden und illustren Namen wie »Treffpunkt der Unsterblichen« oder »Residenz der Heiligen« gesäumt war. Ständig fuhren zahlreiche Gäste vor, und zu Stoßzeiten reihte sich eine Kutsche an die nächste und die ganze Straße war erfüllt vom Duft köstlicher Gerichte. Aber es gab auch einige kleinere, namenlose Imbißbuden, die Hammelbrötchen, geröstete Weizenfladen oder gekochten Tofu verkauften ... ich hatte ja nicht geahnt, welche Vielfalt an kulinarischen Leckerbissen Beijing zu bieten hat! Kein Wunder, daß sich alle Welt auf den Weg in die Hauptstadt machte! Ich, dein Vater, war an ärmliche Verhältnisse gewöhnt, und hatte nie etwas anderes gekannt, als mit dem Mangel zu leben. Jetzt half ich manchmal in den Restaurants aus und bekam als Lohn täglich eine Schüssel übriggebliebenen Essens. In der großen Stadt etwas zu essen zu ergattern war wesentlich leichter als in Gaomi. Denn hier bestellte sich die wohlhabende Kundschaft so viele Platten, daß der ganze Tisch voll war, und dann rührten sie nur ein bißchen mit den Stäbchen darin herum und ließen das meiste liegen. Allein von den Resten wurde ich jeden Tag reichlich satt. Einmal den Bauch voll, suchte ich mir eine windgeschützte Ecke zum Schlafen. Wenn ich in der warmen Sonne lag, konnte ich meine Knochen knacken hören, so schnell wuchs ich. In zwei Jahren wurde ich einen ganzen Kopf größer, wie ein vertrockneter Schößling nach einem Frühlingsregen.
    Als ich mich gerade an dieses zufriedene Bettlerleben gewöhnt hatte und sorglos von der Hand in den Mund in den Tag hinein lebte, trat eines Tages eine unvorgesehene Veränderung ein: Ich wurde von einer Horde Bettler halb totgeprügelt. Der Anführer der Bande war auf einem Auge blind; mit seinem verbliebenen Auge starrte er einen durchdringend an, und er trug eine lange Narbe im Gesicht. Eine wirklich furchteinflößende Erscheinung. »Du kleiner Bastard, aus welchem Loch bist du denn gekrochen, daß du es wagst, im Revier des großen Onkels nach Futter zu suchen? Wenn ich dich noch einmal beim Herumstromern in dieser Straße erwische, breche ich dir deine elenden Hundeknochen und reiße dir die Schweinsaugen aus!« hörte ich ihn sagen.
    Es war Mitternacht, als ich wieder zu mir kam und mich mühevoll aus dem Abwassergraben rettete. Ich war ein zitterndes Häufchen Elend. Mit stechenden Schmerzen am ganzen Körper und leerem Magen kauerte ich in einer Ecke und wollte nur noch sterben. Doch da erschien mir deine Großmutter, die zu mir sprach: »Mach dir keine Sorgen, mein Kind, die Stunde deines Glücks wird noch schlagen.«
    Hatte ich geträumt? Ich schlug die Augen auf, aber da war nichts als der kalte Herbstwind, der in den Wipfeln der Bäume rauschte, die Sterne am Himmel und ein paar frierende Grillen, die in den Grasbüscheln neben der Gosse kläglich zirpten. Doch sobald ich die Augen schloß, sah ich wieder deine Großmutter, die verkündete, daß mein Glück nahe sei. Als ich in der Morgendämmerung erwachte, ging rotleuchtend die Sonne auf und der Rauhreif glitzerte auf dem Gras. Ein Schwarm Krähen flog krächzend in Richtung Süden. Damals wußte ich noch nicht, warum die Krähen in der Morgendämmerung zum Südtor fliegen, erst später wurde mir klar, was sie dort suchten. Ich hielt es vor Hunger kaum noch aus

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