Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
das Exekutionskommando schon weit die lößbedeckte Straße Richtung Süden hinuntergeritten, gelben Staub aufwirbelnd. Als ich ihnen angsterfüllt und unschlüssig hinterherstarrte, drang wieder die Stimme deiner Großmutter an mein Ohr: »Mein Sohn, lauf hinterher! Es ist dein Onkel.«
    Die Pferdeäpfel dampften in der Sonne, und ein paar Spatzen pickten darin herum  – keine Spur von deiner Großmutter. Ach, Mama ... Ich fühlte mich hundeelend und schluchzte auf. Aus tiefstem Herzen vermißte ich sie und machte ihr Vorwürfe. Mutter, da stoßt Ihr mich vor diesen Karren  – aber wer ist denn nun mein Onkel? Sie haben mich am Kragen gepackt und in den Graben geworfen wie eine tote Katze. Das werdet Ihr doch wohl gesehen haben? Mutter, wenn Ihr mir wirklich einen Fingerzeig geben könnt, dann weist mir einen Ausweg aus meiner Hilflosigkeit; sonst schweigt bitte still und überlaßt mich meinem Schicksal. Im nächsten Moment hörte ich wieder ihre alte Stimme: »Mein Sohn, lauf los, es ist dein Onkel ... es ist wirklich dein Onkel ...«
    Ich rannte also wie besessen hinter dem Exekutionskommando her. Ich rannte, weil ich der Stimme meiner Mutter entkommen wollte  – selbst auf die Gefahr hin, daß diese Soldaten mit den Strohhüten mich wieder in den schmutzigen Graben warfen. Ich rannte und rannte, zum Xuanwu-Tor hinaus, die enge, holprige Gasse entlang, die zum Gemüsemarkt führt. Es war das erste Mal, daß ich meinen Fuß in diese weltberühmte Gasse setzte, Schritt um Schritt hinterließ ich meinen Fußabdruck auf dem Pflaster. Außerhalb der Stadt sah alles ganz anders aus. Zwischen den niedrigen Häusern zu beiden Seiten des Weges lagen dunkelgrün die Gemüsegärten, in denen Chinakohl, Rüben und Kletterbohnen mit gelben Blättern wuchsen. Einige Leute gingen gebückt ihrer Arbeit nach und schienen sich nicht sonderlich für die auffällige Exekutionseskorte zu interessieren. Manche hoben nicht einmal den Kopf.
    Die gewundene Straße mündete auf einen großen Platz. Um die Bühne in der Mitte des Richtplatzes herum stand eine Gruppe gelangweilter Gaffer, darunter auch einige Bettler. Auch den Einäugigen, der mich verprügelt hatte, sah ich. Es galt also offenbar als sein Revier. Die Soldaten nahmen Aufstellung. Die beiden Henker zogen den Verurteilten vom Karren herunter. Vielleicht waren ihm die Beine gebrochen worden  – jedenfalls zog er sie so seltsam hinter sich her, daß ich an die Enden von Frühlingszwiebeln denken mußte, die man durch die Finger gezwirbelt hat. Die Henker stellten ihn auf der Richtplattform ab, wo er zusammensackte wie ein Haufen Fleisch ohne Knochen. Das um die Bühne herumlungernde Volk gab verächtliche Ohs und Ahs von sich. »Feigling! Schwächling! Steh auf und sing uns etwas vor!« grölten sie. Unter ihren anfeuernden Zurufen kam etwas Leben in den Unglücklichen, der sich mit größter Anstrengung bewegte. Die Gaffer johlten und tobten, bis er sich schließlich auf beide Hände gestützt aufrichtete, ohne jedoch vom Boden hochzukommen.
    Die Menge schrie: »Sei ein ganzer Kerl, sage ein paar markige Worte! Sag ›Köpfe abschlagen hinterläßt große Narben‹, sag ›In zwanzig Jahren bin ich wieder ein guter Mensch‹!«
    Der Verurteilte lamentierte nur vor sich hin, bis er schließlich laut ausrief: »Guter Gott im Himmel, es ist um mich geschehen!«
    Die Umstehenden verstummten und blickten töricht auf den Menschen zur Bühne. Die beiden Henker verzogen keine Miene. In diesem Augenblick drang erneut die Stimme meiner Mutter an mein Ohr: »Schrei, mein Sohn, mein guter Sohn, mach schnell, es ist dein Onkel!«
    Ihre betagte Stimme wurde immer dringlicher, immer schriller, immer strenger, es war, als ob ein eiskalter, klammer Wind sich mir um den Hals legte und drohte, mir die Kehle zuzuschnüren, wenn ich nicht sofort losschrie. Es blieb deinem Vater nichts anderes übrig, als erneut sein Leben zu riskieren und aus voller Kehle zu schreien: »Onkel ...!«
    In der nächsten Sekunde richteten sich aller Augen auf mich. Die Augen der Beamten, die die Exekution überwachten, die Augen der Kavalleristen, die Augen der Bettler und Gaffer  – aber diese Blicke vergaß ich augenblicklich. Nur den Blick des zum Tode Verurteilten würde ich mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen. Er hob verzweifelt seinen verstümmelten Kopf, öffnete die blutverkrusteten Augen, und sein Blick traf mich wie zwei rote Pfeile, die mich sofort niederstreckten. Dann vernahm man

Weitere Kostenlose Bücher