Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
meinem Herzen Luft machen und glücklich sein. Meine Dame, Sie stammen aus einer Familie, die sich in unserer Dynastie große Verdienste erwarb. Sie sind aufgewachsen mit dem Klang antiker Instrumente, Sie speisten von historischem Geschirr. Ihr Großvater mütterlicherseits war Zeng Guofan, der die Dynastie während des Taiping-Aufstands aus einer großen Krise errettet hat. Er warf seine ganze Energie und sein ganzes Talent in die Waagschale, scheute keine Strapazen und setzte sich mit Leib und Seele für sein Vaterland ein. Wahrhaftig, er war ein Mann, der die Wellen des Meeres zur Umkehr zwingen konnte, ein Fels in der Brandung, ein wahrer Stützpfeiler des Staates. Ohne Ihre glorreiche Familie wäre es längst vorbei mit der Großen Qing-Dynastie. Kommen Sie, meine Dame, lassen Sie uns diesen Becher leeren. Glauben Sie nicht, daß ich betrunken bin. Nein, ich bin es nicht. Der Wein vermag nur mein Fleisch zu berauschen, doch leider meine Seele nicht. Gnädige Frau, ich kann Ihnen die Wahrheit nicht verhehlen: Die Tage des Großen Kaiserreichs der Qing sind gezählt. Die Kaiserinwitwe hat die Macht usurpiert, der Kaiser ist nur noch eine Marionette. Der Hahn brütet die Eier aus und die Henne ruft Kikeriki, Yin und Yang, Schwarz und Weiß haben sich verkehrt, Halunken sind an der Macht, Hexen treiben ihr Unwesen  – daß das Kaiserhaus noch nicht am Ende ist, das ist das eigentlich Absurde! Gnädige Frau, ich muß es einmal rundheraus sagen, damit ich nicht daran ersticke! Ach, Dynastie der Qing, du marodes Gebäude, wenn du einstürzen willst, dann tu es bald! Wenn du sterben willst, dann tu es doch! Was tut es not, sich halb lebendig und halb tot, halb Yin und halb Yang zum Durchhalten zu zwingen? Werte Dame, haltet mir nicht den Mund zu, nehmt mir nicht den Weinbecher fort, laßt mich fröhlich weitertrinken und weiterreden! Und Ihr, hochverehrte Kaiserinwitwe, erhabener Kaiser, Ihr seid die Herrscher der zehntausend Jahre, warum empfangt Ihr in Euren geheiligten Hallen mit allen Ehren einen Henker! Was ist denn, bitte sehr, ein Henker? Der Abschaum der Menschheit, weniger wert als ein Ochsenknecht. Leute meines Ranges, die Eure wahren Diener sind, gehen tagein tagaus gewissenhaft und rechtschaffen ihren Amtsgeschäften nach, und würden nicht einmal davon träumen, direkt in Euer Drachenantlitz zu blicken. Das wäre nicht weniger vermessen, als den Himmel selbst erschüttern zu wollen. Aber eine so unwürdige Sorte Mensch empfangt Ihr zu einer Audienz. Die Kaiserinwitwe überreicht ihm Gebetsperlen, der Kaiser beehrt ihn mit einem Prunksessel  – fehlte nur noch, daß Ihr seine Familie in den Adelsstand erhebt. Ihr Großvater Zeng Guofan, gnädige Frau, war ein großer Stratege, kommandierte drei Armeen, kämpfte an allen Fronten, doch nie hat der Kaiser ihm zum Dank einen Drachenthron überlassen, nicht wahr? Ihr Großonkel Zeng Guoquan trotzte den Geschossen des Feindes, forderte den Feind heraus und riskierte in blutigen Schlachten sein Leben; doch hat die Kaiserinwitwe ihm je eine Gebetskette als Auszeichnung überreicht? Statt dessen wird ein nichtswürdiger Scharfrichter damit beehrt. Dieses Scheusal profitiert nun von der Gunst der Kaiserinwitwe und des Kaisers, um sich aufzuspielen, und zwingt mich, vor diesem Stuhl und dieser Gebetskette  – und damit vor ihm  – dreimal niederzufallen und neun Kotaus zu machen. Wer das ertragen kann, der kann alles ertragen. Ich bin vielleicht nur ein kleiner Beamter, ein bescheidener Mensch. Doch ich besitze immerhin eine lange Reihe von akademischen Auszeichnungen und gehöre zur Elite der Staatsbeamten fünften Grades. Wie sollte ich angesichts dieser Schmach nicht in Rage geraten? »Für eine große Sache kann man eine kleine Demütigung ertragen«, sagen Sie? Aber von einer großen Sache kann doch keine Rede sein. Es geht das Gerücht um, daß die acht Großmächte bereits die Hauptstadt besetzt hätten. Womöglich stehen die kaiserlichen Majestäten kurz vor der Abdankung und der Flucht nach Westen, und unser großes Herrscherhaus hat seine letzten Tage gesehen. Was soll ich noch alles ertragen! Ich ertrage es nicht! Ich will Genugtuung! Als diese Mißgeburt soeben, samt Prunksessel und Gebetskette in meine Sänfte hat steigen wollen, habe ich seiner knochigen Hundefresse zwei schallende Ohrfeigen verpaßt! Welche Wonne! Jeder Schlag hat gesessen. Er ist zu Boden gegangen und hat zwei blutige Hundezähne ausgespuckt. Meine Hand brennt jetzt noch

Weitere Kostenlose Bücher