Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
eifriger Zuvorkommenheit zu überspielen, und dennoch stieß sie mit dem Knie gegen einen Hocker und hängte ihren Ärmel in die Weinschale. Am Ende des Abends meinte sie, trotz der äußeren Förmlichkeit des Präfekten, in seinem unnatürlichen Hüsteln und seinen ausdrucksvollen Augen eine geheime Zärtlichkeit zu entdecken. Zum zweiten Mal traf sie den Präfekten beim Bartwettkampf. Bei dieser Gelegenheit, als sie zum Schiedsrichter über den Kampf bestimmt wurde, konnte sie sich nicht nur die Gesichtszüge des Präfekten genauer ansehen, sie nahm auch den besonderen Duft wahr, der von seinem Körper ausging. Sein dicker, glatter Zopf und sein schöner Nacken lagen so dicht vor ihren hungrigen Lippen, ach so dicht ... Ach, Exzellenz, ich wünschte, meine Tränen hätten Euren Nacken benetzt, ich wünschte, Ihr hättet meine Tränen auf Eurem Nacken gespürt ... Um ihr uneigennütziges Urteil zu honorieren, hatte der Präfekt ihr ein Pfund Silbergeld auszahlen lassen. Als sie sich das Geld abholte, hatte der ziegenbärtige Sekretär sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck von Kopf bis Fuß gemustert. Sein Blick war ziemlich lange an ihren Füßen hängengeblieben, was sie von der hohen Wolke, auf der sie schwebte, ruckartig hinab ins tiefe Meer sinken ließ. Sie konnte seine Gedanken nur allzuleicht von seiner Miene ablesen. Innerlich schrie sie auf: »Himmel und Erde, Vater und Mutter, mein ganzes Leben lang muß ich unter diesen großen Füßen leiden! Warum habe ich meine Schwiegermutter damals nicht gewähren lassen? Den Schmerz hätte ich schon aushalten können. Selbst wenn es mich zehn Jahre meines Lebens kosten sollte, meine Füße zu verkleinern, ich wäre einverstanden. Auch mit zwölf Jahren weniger Lebenszeit wäre ich einverstanden!« Bei diesen Gedanken stieg unweigerlich Haß gegen ihren Vater in ihr auf: »Ach Vater, der du meine Mutter so verletzt hast, daß sie den Tod suchte, du bist ein eigennütziger Bohemien, hast dich nie um deine Tochter geschert, dich nicht darum gekümmert, mir, als ich klein war, die Füße binden zu lassen ... Selbst wenn dein Bart schöner gewesen wäre als der Seiner Exzellenz, hätte ich dich zum Verlierer erklärt, aber dein Bart war sowieso nicht der schönere.«
Sun Meiniang nahm das Geld und ging nach Hause. Wenn sie an den gefühlvollen Blick des Präfekten dachte, wurde ihr ganz warm ums Herz, doch wenn sie sich an den abschätzigen Blick des Sekretärs erinnerte, erstarrte sie zu Eis. Als der Tag der Gnädigen Frau näherrückte, deckten die Frauen des Ortes sich mit Puder und Cremes ein, nähten sich neue Kleider und benahmen sich überhaupt wie junge Bräute vor der Hochzeit. Sun Meiniang aber war unentschieden, ob sie hingehen sollte, um sich die Gnädige Frau anzusehen oder nicht. Sie war dem Präfekten erst zweimal begegnet und es war nicht das geringste vorgefallen, und doch war sie der Überzeugung, daß ihre Herzen im gleichen Takt schlugen und daß sie früher oder später zu einem sich zärtlich liebenden Mandarinentenpaar werden würden. Wenn sie die Nachbarinnen auf der Straße über die vermeintliche Schönheit der Gnädigen Frau und den bevorstehenden Tag reden hörte, wurde sie so wütend, als handele es sich um Tratsch über ihre eigene Familie. Und dabei hätte sie nicht sagen können, ob sie sich eine schöne oder eine häßliche Präfektengattin wünschte. Wäre sie schön wie der Tag, würde sie verzweifeln, doch wäre sie häßlich wie die Nacht, wäre das nicht eine Schande für Seine Exzellenz? Sie sehnte den Festtag so sehr herbei, wie sie ihn fürchtete.
Beim ersten Hahnenschrei erwachte sie. Wie schwer war es ihr gefallen, die Unruhe bis zum Tagesanbruch durchzustehen. Lustlos bereitete sie das Frühstück zu, und noch lustloser machte sie sich an ihre Toilette. Immer wieder ging sie zwischen Küche und Hof hin und her, bis sogar dem tumben Holzkopf Xiaojia, der draußen beim Schweineschlachten war, ihr ungewöhnliches Verhalten auffiel. »Frau, Frau, was ist denn mit dir los?« fragte er. »Jucken dir die Fußsohlen, daß du nicht stillstehen kannst? Ich kann sie dir gern mit einer Luffagurke kratzen.«
»Von wegen juckende Fußsohlen, mir bläht sich der Magen auf und wenn ich mich nicht bewege, dann platze ich!« fuhr sie schlecht gelaunt ihren Mann an. Sie hatte sich auf den Brunnenrand gestellt, um eine Blüte des in flammendroter Pracht stehenden Granatapfelbaums abzubrechen. Insgeheim gelobte sie: Wenn die Blüte eine
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