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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Frau war wie eine sich öffnende Blüte, eine reife Frucht, strotzend vor Anmut und Vitalität. An diesem Körper gab es nichts auszusetzen  – bis auf die Füße. Große Füße. Ihre Haut war glatt und schimmernd, ihre einzige Narbe wurde von ihrem Haar am Hinterkopf verdeckt.
    Diese Narbe ging zurück auf den Biß einer vorwitzigen Eselin. Damals hatte sie gerade erst zu krabbeln begonnen. Als sie an jenem Tag über den elegant bekleideten Körper der Mutter kletterte wie über einen Gebirgszug, wußte sie nicht, daß dieser Körper, der sich auf dem Kang ausstreckte, eine Leiche war. Ihre Mutter hatte sich mit Opium vergiftet. Die kleine Meiniang hatte Hunger, suchte die Mutterbrust, aber bekam nichts zu trinken und weinte. Schließlich fiel sie vom Kang herunter und weinte um so kläglicher. Niemand kümmerte sich um sie. Sie krabbelte nach draußen, weil es da nach Milch roch. Eine Eselin säugte ihr Fohlen. Sie war wegen ihres hitzigen Temperaments von ihrem Besitzer an einen Baum angebunden worden. Die kleine Meiniang krabbelte zu der Eselskuh hin und wollte auch etwas von der Milch. Da wurde sie von der zornigen Eselin am Hinterkopf geschnappt, und ein paarmal hin und her geschwenkt. Schließlich schleuderte sie das Kind in eine Ecke, wo es blutend liegenblieb. Sein lautes Weinen alarmierte die Nachbarn. Eine gutherzige Nachbarin nahm sie in den Arm und stillte das Blut mit Kalk. Aber die Wunde war so tief, daß alle der Überzeugung waren, daß das Mädchen nicht überleben würde. Auch ihr Vater, der das unstete Leben eines Wanderschauspielers führte, glaubte, daß sie sterben müsse. Meiniang jedoch trotzte dem Tod.
    Lange Jahre blieb sie schwächlich, und die große Narbe war deutlich an ihrem Hinterkopf sichtbar. Sie zog mit der Theatertruppe ihres Vaters durchs Land und spielte auf der Bühne die Kinderrollen, die des kleinen Dämons oder des Kätzchens. Als sie fünfzehn Jahre wurde, schoß sie auf einmal in die Höhe wie ein Weizensetzling im Frühlingsregen. Mit sechzehn begann ihr schwarzes Haar kraftvoll zu wachsen und zu sprießen wie die dichten Schößlinge an einem Weidenbaum, dem man die Krone abgesägt hat. Bald war von der häßlichen Narbe nichts mehr zu sehen. Mit siebzehn begannen die Fettzellen unter ihrer Haut ihren Körper zu formen. Vielen Leuten wurde erst jetzt bewußt, daß sie ein Mädchen war. Bis dahin hatten sie die anderen Mitglieder der Truppe aufgrund ihrer großen Füße und ihres spärlichen Haarwuchses für einen zarten Knaben gehalten. Mit achtzehn war sie schließlich zum schönsten Mädchen von Dongbei herangewachsen. Mit Bedauern in der Stimme pflegten die Leute zu sagen: »Wenn die großen Füße nicht wären, könnte das Mädchen glatt eine Konkubine des Kaisers werden!«
    Wegen dieser Füße war Sun Meiniang mit zwanzig Jahren noch immer unverheiratet. Da das nicht anging, wurde dieses Mädchen mit dem Gesicht einer blühenden Rose im letzten Moment mit einem Metzger, Zhao Xiaojia aus dem Stadtteil Dongguan verheiratet. Als Meiniang die Schwelle zu dessen Haus überschritt, war ihre Schwiegermutter noch am Leben. Die Frau hatte gebundene Lotusfüße und haßte das Mädchen mit den großen Füßen. Immer wieder forderte sie ihren Sohn auf, den furchtbaren Schönheitsfehler ihrer Schwiegertochter mit seinem Metzgerbeil zu beheben. Doch da sich Xiaojia weigerte, beschloß die Alte, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
    Sun Meiniang war ein Wildfang. Sie wußte das Schwert und den Stab zu führen und konnte allerlei akrobatische Kunststücke machen; eine traditionelle Erziehung hatte sie nicht genossen und wußte folglich auch nichts von den drei Pflichten und den vier Tugenden, zu denen man ein Mädchen für gewöhnlich erzog. Es kostete sie daher eine große Beherrschung, die Rolle der braven Ehefrau und Schwiegertochter zu ertragen. Als sich ihr die Schwiegermutter mit Trippelschrittchen näherte und das Beil schwang, war es ihr ohne weiteres möglich, den Angriff abzuwehren. Beim Theater hatte sie einige Geschicklichkeit erworben, und ihre Füße waren höchst verläßliche Verbündete. Die Schwiegermutter dagegen stand auf sehr wackeligen Beinen. Nun ging Meiniang zum Angriff über. Mit nur einem Tritt ging die Schwiegermutter zu Boden. Meiniang sprang ihr auf den Rücken wie Wu Song aus der Geschichte Die Räuber vom Liangshan-Moor , der den Tiger bezwingt, und versetzte ihr etliche Faustschläge. Die Schwiegermutter heulte und rief die Götter des Himmels

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