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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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gerade Anzahl von Blättern hätte, würde sie ins Yamen gehen und sich die Gnädige Frau ansehen; wenn nicht, dann würde sie es bleiben lassen und außerdem der Idee einer Liebschaft mit Seiner Exzellenz entsagen.
    Sie riß ein Blütenblatt nach dem anderen ab: Eins, zwei, drei ... neunzehn Blätter. Sie war wie versteinert und versank in tiefe Mutlosigkeit. Nein, das konnte nicht gelten. Sie hatte eben einfach nicht inbrünstig genug geschworen. Sie brach eine zweite, besonders üppige Blüte ab, hielt sie zwischen beiden Händen, schloß die Augen und betete still vor sich hin: »Götter im Himmel, Heilige auf Erden, gebt mir ein Zeichen ...« Dann begann sie mit besonderer Gewissenhaftigkeit erneut die Blütenblätter abzuzählen: Eins, zwei, drei... siebenundzwanzig Blätter. Sie knüllte frustriert den Blütenstengel in ihrer Hand zusammen und schleuderte ihn auf die Erde. Traurig sank ihr der Kopf auf die Brust. Xiaojia, sehr um Anteilnahme bemüht, fragte vorsichtig: »Frau, möchtest du dich mit einer Blume schmücken? Komm, ich helfe dir eine zu pflücken.«
    »Hau ab, du widerst mich an!« kanzelte sie ihn ab. Sie drehte sich um und ging ins Haus zurück, warf sich bäuchlings auf den Kang und zog sich ein Laken über den Kopf.
    Nachdem sie sich ausgeweint hatte, fühlte sie sich leichter. Sie wusch sich das Gesicht, kämmte sich und zog aus dem Schrank ein Paar Schuhe, deren Sohlen noch nicht ganz fertig genäht waren. Unentschlossen saß sie im Schneidersitz auf dem Kang und versuchte, ihre schweifenden Gedanken in Zaum zu halten und nicht auf das Geplapper und Gelächter der anderen Frauen auf der Straße zu hören. Schließlich stand sie mit einem verächtlichen Schnauben auf. Der einfältige Xiaojia kam hereingerannt: »Frau, alle gehen zum Yamen, um sich die Gnädige Frau anzusehen, willst du denn nicht mit?«
    Sie geriet schon wieder in Wallung.
    »Ich habe gehört, daß da auch Bonbons geworfen werden, kannst du mich nicht mitnehmen, damit ich welche auflesen kann?«
    Sie tat einen tiefen Seufzer und sagte zu ihm, im Tonfall einer Mutter, die mit ihrem Sohn redet: »Xiaojia, bist du denn ein kleines Kind? Erwachsene Männer dürfen nun einmal nicht mit. Hast du keine Angst, daß dich die Schergen mit ihren Gewehrläufen davonjagen?
    »Ich möchte so gerne Bonbons aufsammeln.«
    »Wenn du Süßigkeiten willst, geh und kauf dir welche.«
    »Gekaufte schmecken aber nicht so gut wie aufgelesene.«
    Wie eine Feuersbrunst rollte das Gelächter der Frauen immer näher an ihr Haus heran und versengte ihr schmerzhaft die Haut. Meiniang stach die Nähnadel so heftig in die Schuhsohle, daß sie abbrach. Wütend warf sie Nadel und Schuhe auf den Kang und sich selbst hinterher. Sie war völlig durcheinander und trommelte wild mit den Fäusten auf die harte Schlafstatt.
    »Liebe Frau, hast du denn immer noch Blähungen?« Xiaojia wagte es nur schüchtern vor sich hin zu murmeln.
    Sie knirschte mit den Zähnen und schrie: »Ich werde hingehen! Ich werde sie mir ansehen, deine werte Frau Gemahlin!«
    Sie wälzte sich vom Kang. Den Gedanken an das Blütenblätterorakel verbannte sie in den hintersten Winkel ihrer Gehirnzellen. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß sie niemals auch nur eine Sekunde daran gezweifelt hatte, ob sie zum Empfang der Gnädigen Frau gehen sollte. Sie holte Wasser, um sich noch einmal das Gesicht zu waschen und setzte sich vor den Spiegel, um sich zu schminken. Mit gepuderter Haut und rotgefärbten Lippen war das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, fraglos das einer schönen Frau. Vielleicht waren ihre Augenbrauen etwas zu dicht. Sie nahm die Kleider, die sie schon seit langem für diesen Tag zurechtgelegt hatte, aus dem Schrank und zog sich vor den Augen Xiaojias um. Beim Anblick ihrer entblößten Brüste streckte er die Arme nach ihr aus. Sie nahm ihn in den Arm wie ein kleines Kind und sagte: »Braver Xiaojia, warte schön zu Hause auf mich, ich gehe Bonbons auflesen und bringe sie dir mit.«
    Mit einer gefütterten roten Jacke und einer grünen Hose, über die sie noch einen bodenlangen, grünen Rock gezogen hatte, ging sie wie eine frisch aufgegangene Fuchsienblüte die Straße entlang. Es war ein herrlicher, sonniger Frühlingstag. Ein sanfter Südwind wehte, der den Geruch des reifenden Weizens mitbrachte. Ein Südwind, in dem die Sinne erwachen, späte Frühlingslüfte, die in den Frauen die Leidenschaft entfachen. Sie brannte vor Ungeduld und wäre gern im Handumdrehen

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