Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
und der Erde an, weil sie es mit der Angst bekam. Diese herbe Lektion hatte die Frau völlig traumatisiert. Sie konnte die Angst vor Meiniang nicht mehr abschütteln, bekam psychisch bedingte Störungen des Abdomens, und wenig später starb sie. Von da an lebte Sun Meiniang unbeschwert. Sie wurde zum eigentlichen Oberhaupt der Familie und eröffnete in dem der Straße zugewandten Südzimmer eine kleine Schenke, in der sie den Bewohnern der Kreisstadt süßen Reiswein und gekochtes Hundefleisch anbot. Der Ehemann war zwar ein Trottel, aber die Ehefrau fast eine Lebedame. Sie war eine Schönheit und ihre Geschäfte gingen glänzend. All die jungen Bonvivants der Präfektur kamen vorbei, um ihr Glück bei ihr zu versuchen – aber es sah so aus, als hätte bisher noch kein einziger Erfolg gehabt. Sun Meiniang hatte schließlich drei Spitznamen: »Die Unsterbliche mit den großen Füßen«, »die Halbschönheit«, »die Hundefleisch-Xishi«.
2.
Zehn Tage waren seit dem großen Bartwettkampf vergangen und die Wellen der Begeisterung über das stattliche Aussehen und die Großmut des neuen Präfekten unter den Bewohnern der Kreisstadt noch nicht verebbt, als der Tag der Gnädigen Frau gefeiert wurde, ein Fest, bei dem sich das Städtchen traditionell mit Lampions und bunten Bändern schmückte.
An diesem Tag, dem achtzehnten des vierten Monats, war es alljährlich Sitte, daß die Dritte Halle des Yamen, die für gewöhnlich selbst Amtsträger nicht betreten durften, vom einfachen Volk ganz zu schweigen, für die Frauen und Kinder von Gaomi geöffnet wurde. Vom frühen Morgen an empfing dort an diesem Festtag die Gnädige Frau, die Gattin des Präfekten, in Anwesenheit ihres Mannes und in prachtvoller Kleidung das Volk. Es war eine Geste des Wohlwollens gegenüber dem Volk und eine Demonstration der Glorie, mit der die Gattin ihren ehrenwerten Gatten schmückte.
Von der Attraktivität des Präfekten hatten sich bereits viele Einwohner überzeugen können, und auch über die noble Herkunft und die hohe Bildung seiner Gemahlin war schon beizeiten einiges zur weiblichen Einwohnerschaft durchgesickert. Daher warteten die Frauen von Gaomi voller Ungeduld auf den Festtag. Wollten sie doch nur zu gern wissen, wen sich dieser Himmelsfürst wohl zur Ehefrau erkoren hatte. Zeitig wie die Weidenkätzchen füllten auch die Mythen und Gerüchte um ihre Person den Himmel über der Stadt. Es gab diejenigen, die erzählten, sie sei mit unvergleichlicher Schönheit gesegnet, und diejenigen, die sagten, sie sei voller Pockennarben und gliche der Mutter eines Dämons. Diese widersprüchlichen Gerüchte stachelten die Neugier der Frauen natürlich nur noch mehr an. Die Jüngeren unter ihnen waren der Meinung, daß die Frau des Präfekten selbstverständlich von blumen- und jadegleichem Liebreiz war; doch die reiferen, erfahrenen Frauen neigten der Auffassung des Sprichworts »Ein guter Mann kriegt eine häßliche Gattin, ein häßlicher Kerl heiratet eine Schönheitskönigin« zu. Der langweilige und unansehnliche Vorgänger Qian Dings hatte eine Frau von feenhafter Eleganz gehabt. Wenn das kein Beweis war. Und doch gab es auch Töchter der Stadt, die sich gerne ihrem Wunschdenken hingaben und sich die Gnädige Frau weiterhin als eine vom Himmel herabgestiegene Göttin vorstellten.
Die Erwartungen, die Sun Meiniang mit dem besagten Tag verband, übertrafen allerdings die sämtlicher anderer Frauen bei weitem. Sie war dem Präfekten bereits zweimal begegnet. Beim ersten Mal hatte sie in einer von feinem Nieselregen verhangenen Vorfrühlingsnacht eine Katze auf die Straße geworfen, die Fische stehlen wollte, und dabei versehentlich die Sänfte Seiner Exzellenz getroffen. Zur Entschuldigung hatte sie ihn daraufhin in die Schenke gebeten. Im hellen Schein der Kerzen fiel ihr sofort das stattliche und sympathische Äußere des Präfekten auf. Er wirkte, als wäre er geradewegs einem Neujahrsbild entsprungen. Er war ein vollendeter Kavalier und sein freundliches Benehmen ließ trotz der durchweg seriösen Unterhaltung die außergewöhnliche Empathie und Liebenswürdigkeit des Mannes hervortreten. Was war ihr schweineschlachtender Gatte im Vergleich zu diesem Mann ... ach, da gab es gar keinen Vergleich! Ihr Mann löste sich in diesem Moment einfach in Luft auf. Sie schwebte einen halben Meter über dem Boden, ihr Herz pochte lauthals und ihr Gesicht brannte vor Erregung. Sie versuchte, ihren inneren Aufruhr mit gewählten Worten und
Weitere Kostenlose Bücher