Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
ihr nicht herunterstibitzten. Meiniang beobachtete, wie die Gnädige Frau plötzlich ihren Rock ein wenig anhob. Da kamen ihre spitzen kleinen Lotusfüße zum Vorschein. Die Menge brach in bewundernde Rufe aus. Die Füße der Gnädigen Frau waren einfach zu hübsch anzusehen, und Meiniang mit ihren großen Füßen wollte am liebsten vor Scham im Boden versinken. Obwohl ihre Füße unter dem langen Rock versteckt waren, hatte sie das Gefühl, daß die Gnädige Frau erraten hatte, daß sie durch riesige Füße entstellt war. Nicht nur Meiniangs plumpe Füße schienen der Gnädigen Frau nicht verborgen geblieben zu sein, sondern auch ihr törichtes Verlangen nach ihrem Gatten. Also hatte sie absichtlich ihre Lotusfüßchen entblößt, um sie zu demütigen, jawohl, um sie zu provozieren. Meiniang wollte nicht hinsehen, doch sie konnte ihren Blick nicht von diesen beiden feinen spitzen Füßen, die wie zwei frische Wassernüsse aussahen, abwenden. Die Gnädige Frau trug sehr kostbare Schuhe: grüner Brokat, mit roten Blumen bestickt. Wie zwei Geheimwaffen streckten die zierlichen Füße der Gnädigen Frau Sun Meiniang nieder. Meiniang hatte das Gefühl, als ob durch den rosafarbenen Gazeschleier hindurch ein mokanter Blick sie träfe. So war es. Dieser Blick durchdrang den Schleier und ihren langen Rock und fiel genau auf ihre Füße. Sie meinte sogar wahrzunehmen, wie sich die Mundwinkel hinter dem Schleier zu einem arroganten Lächeln hochzogen. Meiniang wußte, sie war geschlagen, gründlich geschlagen. Sie mochte das Antlitz einer Prinzessin haben, aber was nutzte das, wenn ihre Füße so plump und häßlich waren wie die einer Bäuerin? In einem Anfall von Panik zog sie sich nach hinten zurück, wobei sie meinte, einige spöttische Lacher zu vernehmen. Erst da wurde ihr klar, was für eine Vorstellung sie vor den Augen Seiner Exzellenz und dessen Gattin abgegeben hatte. Von der eigenen Schande überwältigt, wußte sie nicht mehr, wo sie hintrat, trat mit der Ferse auf ihren Rock und mit einem ratsch! riß dieser entzwei. Sie stolperte und fiel rücklings zu Boden.
Später mußte sie immer wieder daran denken, wie Seine Exzellenz bei ihrem Sturz rasch vom Tisch aufgestanden war. Auf seiner Miene hatte sie einen Ausdruck von Liebe und Besorgnis gelesen, einen Ausdruck, wie man ihn nur für jemanden übrig hat, dem man mit Leib und Seele verbunden ist. Sie war sich ebenso sicher, daß Seine Exzellenz ihr zu Hilfe geeilt wäre, wenn seine Frau ihn nicht mit einem Tritt ihrer Lotusfüße davon abgehalten hätte. Er blieb einen Augenblick unentschlossen stehen und nahm dann umständlich wieder Platz. Die Gnädige Frau aber saß da, als wäre nichts geschehen.
Unter dem spöttischen Gelächter der Frauen hinter ihr richtete Meiniang sich hilflos wieder auf. Sie hob den Rock und gab sich gar keine Mühe mehr, ihre großen Füße, die sie bei diesem Sturz ohnehin schon entblößt hatte, zu kaschieren, und tauchte in der Menge unter. Sie biß sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten, aber es hatte keinen Zweck, sie kullerten ihr heiß aus den Augenwinkeln. Als sie sich zum äußersten Rand der Menge durchkämpfte, hörte sie die Frauen hinter sich immer noch kichern oder sich in Lobeshymnen auf die zierlichen Füße der Gnädigen Frau ergehen. Sie wußte genau, daß die Gnädige Frau diese immer wieder scheinbar beiläufig zur Schau stellte, es jedoch mit voller Absicht tat. Wer dachte noch an ihr häßliches Gesicht? Bevor sie sich ganz aus der Versammlung stahl, riskierte Meiniang noch einen letzten Blick in Richtung des Präfekten, und wieder fanden sich auf unerklärliche Weise ihre Augen. Wollte er sie trösten? Wollte er sie seiner Sympathie versichern? Das Gesicht hinter ihrem Ärmel verbergend, hastete sie zum Tor hinaus und erst als sie wieder auf der Gasse stand, die am Haus der Familie Dai vorbeiführte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Völlig verstört traf sie zu Hause ein. Xiaojia hängte sich sofort an sie und fragte nach den Bonbons. Sie stieß ihn weg, ging ins Zimmer, wo sie sich auf den Kang warf und in bittere Tränen ausbrach. Xiaojia stand daneben und stimmte in ihr Wehklagen ein. Schließlich drehte sie sich um, packte einen Besenstiel und drosch damit auf ihre Füße ein. Xiaojia, zu Tode erschrocken, hielt ihre Hand fest. Sie starrte in sein häßliches und dämliches Gesicht: »Xiaojia, hol dein Messer und hack mir die Füße ab.«
3.
Die winzigen Füße der Gnädigen Frau waren
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