Die sanfte Hand des Todes
Erdhügel erinnerte oder an einen alten, achtlos weggeworfenen Mantel. Dawn rannte los. Sie ahnte schon, was sie finden würde.
»O Milly, meine liebe kleine Milly, bitte sei gesund.«
Aber der dunkle Haufen war steif und kalt. Er lag schon seit geraumer Zeit unter der Hecke. Ein einzelnes braunes Blatt war auf dem rabenschwarzen Fell gelandet.
»Milly!«
Dawn kniete im Gras nieder. Sie nahm Milly in die Arme und strich ihr in langen, kräftigen Bewegungen über Kopf und Rücken, so als könnte sie damit den Kreislauf anregen. »Milly! Milly!« Das Fell fühlte sich fremd an, fast wie Kunstfaser. Millys Haut wirkte glatt und kalt wie Gummi und hatte mit lebendiger, warmer Tierhaut nichts mehr gemein. Als Dawn ihren Kopf anhob, bewegten sich auch die Vorderpfoten und ragten steif in die Höhe. Millys Augen waren halb geöffnet, eine trübe Schicht überzog die ausgetrockneten Hornhäute. Seit wann lag sie hier? War es schnell gegangen? Ein Herzinfarkt? Oder war sie einen qualvollen, langsamen Tod gestorben, hatte der Schmerz sie Stunde um Stunde gequält, während die Nacht sich hinzog? Warum hatte Dawn sie nicht längst zum Tierarzt gebracht? Wie hatte sie sich
einbilden können, sie sei erfahren genug, um Millys Erkrankung selbst diagnostizieren und behandeln zu können? Deshalb hatte Milly gestern nicht allein bleiben wollen. Sie hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte es geahnt.
»Es tut mir leid.« Dawn wiegte den steifen Hundekörper hin und her. »Es tut mir so leid. Ich hatte ja keine Ahnung.«
Dawns Herz war schwer. Es gelang ihr nicht, sich aufzurichten, aber ihre Augen blieben trocken. Milly war nur ein Hund. Ein alter Hund, dessen langes, größtenteils glückliches Leben ein natürliches Ende gefunden hatte. Es gab in London unzählige Menschen, die just in diesem Moment im Krankenhaus lagen und viel Schlimmeres ertragen mussten. Dawn wartete, bis sich die erste Schmerzwelle gelegt hatte. Millys Kopf sank auf ihren Schoß. So war es schon besser, es fühlte sich natürlicher an, als hätte Milly den Kopf von sich aus auf Dawns Beine gelegt. Da bin ich . Später würde Milly die Elstern vom Rasen vertreiben, und dann würden sie einen Spaziergang zum Park machen. Milly würde vorneweg laufen, innehalten und sich hechelnd nach Dawn umsehen, und ihre Augen würden vor Begeisterung leuchten. Komm schon! Komm schon!
Das Gras unter ihren Knien war kalt. Der Tag würde warm werden, aber noch lag der Morgentau auf dem Rasen, besonders unter der Hecke. Diese Stelle erreichte die Sonne zuletzt. Dawn hob Millys Kopf von ihrem Schoß.
»Warte hier«, sagte sie, »ich bin gleich wieder da.«
Während sie Millys Kopf vorsichtig ins Gras legte, entdeckte sie ein Glitzern auf dem Rasen.
Zuerst glaubte Dawn, das Ding wäre ihr aus der Tasche gefallen, und war für einen kurzen Moment verwirrt; die Dinge befanden sich nicht an ihrem Platz, nicht dort, wo sie sein sollten. Sie brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, was sie da sah: eine leere Fünfmilliliterspritze mit blauem Warnhinweis.
Lewis’ Morphiumspritze. Natürlich. Sie musste sie am Vorabend eingesteckt haben, und nun war sie ihr aus der Tasche geglitten und auf den Rasen gefallen.
Der kurze, durchsichtige Kolben funkelte in der Sonne.
Seltsam war nur, dass Dawn es niemals so machte. Sie hatte noch nie eine gebrauchte Spritze eingesteckt. Sie entsorgte sie in dem dafür vorgesehenen Abwurf. Ausnahmslos. Das tat sie so automatisch wie das Wasserabstellen nach dem Duschen oder das Abschließen der Haustür. Außerdem hatte sie für Lewis eine Zehnmilliliterspritze verwendet. Sie benutzte grundsätzlich nur Zehnmilliliterspritzen, aus Sicherheitsgründen.
Die Fünfmilliliterspritze mit dem Morphiumaufkleber lag dort im Gras, wo sie die ganze Nacht gelegen hatte, unter Millys totem Körper.
Dawn brauchte eine Weile, bis sie begriff.
Das ist nichts im Vergleich zu dem, was Sie erwartet, sollten Sie mich verpfeifen.
Dawn zwang sich dazu, sich hinzulegen. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und würde am Abend wieder zur Nachtschicht antreten müssen. Sie konnte jedoch nicht einschlafen, lag nur auf dem Bett und sah zu, wie das Sonnenlicht über die Wände kroch. Um fünf stand sie wieder auf und setzte sich im Morgenmantel an den Küchentisch. Milly lag an ihrem Lieblingsplatz, im Körbchen zu Dawns Füßen.
»Ich muss gleich los, Mill. Ich muss wieder zur Arbeit.«
In der Küche war es warm. Die Sonne hatte den ganzen
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