Die sanfte Hand des Todes
selbst gesagt.«
»Alt?«, schrie Dawn. »Alt? Und aus demselben Grund soll ich diesen alten Mann umbringen? Was stimmt eigentlich mit dir nicht? Du bist ja krank!«
»Reg dich ab.« Will klang angewidert. »Spiel hier bloß nicht die harmlose Krankenschwester. Das steht dir nicht zu. Immerhin hast du die alte Dame auf dem Gewissen.«
»Das war etwas anderes.«
»Nein. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich habe dein Gesicht gesehen. Du hast es genossen. Du hast deine Macht genossen.«
Dawn öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus.
»O ja.« Will zeigte mit seiner Brille auf sie. »Tu doch nicht so. Sie ist dir zur Last gefallen. Sie war der Beweis dafür, dass du und deine tolle Klinik versagt haben. Und dann liegt sie da rum und nimmt anderen das Bett weg. So wie dieser alte Blödmann, der langsam dahinsiecht und auf seinem Vermögen
hockt, das andere gut gebrauchen könnten. Du bist Krankenschwester, du solltest die Wahrheit kennen. Manche Leute sind tot einfach besser dran. Die wollen gar nicht mehr weiterleben. Was ist daran so schockierend? Wieso nicht ein bisschen nachhelfen, wenn sie ohnehin auf dem Absprung sind?«
Will marschierte zwischen Dawn und der Tür auf und ab, deutete immer wieder mit der Brille in ihre Richtung. Offenbar kam er ganz gut ohne zurecht. »Du weißt es selbst. Du weißt Bescheid. Ich habe es in deinem Gesicht gesehen, als du sie umgebracht hast.«
Dawn war nicht in der Lage zu widersprechen. Ihre Knie fühlten sich weich und ihre Beine schwer an, als steckte sie in einem Sumpf. Jeder Versuch, einen Schritt zu gehen, würde mit einem Sturz enden.
»Wir beide wären ein gutes Team«, fuhr Will fort. »Ich locke sie an, und du machst ihnen den Garaus. Ich habe schon ein paar geeignete Kandidaten auf der Liste, die warten nur darauf, ins Jenseits befördert zu werden. Ich habe ein Händchen dafür. Du würdest dich wundern, wie viele alte, einsame Menschen es in dieser Stadt gibt, die für eine Tasse Tee und ein freundliches Wort einem Fremden ihr Haus und ihr Leben öffnen. Niemand käme auf die Idee, eine Verbindung zwischen uns herzustellen. Es wäre kinderleicht. Wie ich schon sagte – ich halte dich für sehr intelligent.«
Seine Stimme klang sanfter. Einen Augenblick lang war er der alte Will, der bewundernd zu ihr aufsah. Der große, freundliche Will, der mit ihr in Sussex spazieren ging und in der Nacht ihr Gesicht streichelte. Der schüchterne, liebenswerte Will, der einen alten, traurigen Mann überzeugt hatte, ihm sein Haus und sein Geld zu überlassen. Dawn klammerte sich an der Schublade fest. Ohne die Brille wirkte Wills Gesicht seltsam leer, die Augen noch kleiner als sonst. Sein Blick war kalt und herzlos.
Dawn richtete sich auf. »Ich rufe jetzt die Polizei.«
Will lachte auf. »Du? Das glaube ich nicht.«
»Lass mich bitte vorbei.«
Will blieb stehen und verstellte ihr den Weg.
»Du gehst nirgendwohin«, sagte er. Seine Stimme klang jetzt hässlich und drohend. »Du selbstgefällige Schlampe, für wen hältst du dich eigentlich?«
Im Halbdunkel konnte Dawn nur noch seine winzigen Augen sehen, die so gar nicht zu den breiten Schultern und den großen Schaufelhänden passten. Plötzlich bekam sie Angst. Keiner ihrer Freunde kannte Will. Niemand hatte sie je zusammen gesehen. Keiner wusste, dass sie hier mit ihm allein war.
Er machte einen Schritt auf sie zu. Dawn wich zurück. Etwas stieß ihr in den Rücken. Die Schublade.
Da klingelte es an der Tür.
Das schrille Geräusch zerriss die Stille. Dawn zuckte zusammen. Will regte sich nicht. Er ließ sie nicht aus den Augen.
»Hallo?« Aus dem Flur drang ein Klopfen. »Hallo? Dawn?«
Dawn musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer vor der Tür stand. Es war Eileen, ihre Nachbarin. Sie hatte die Hände an die Fensterscheibe am Eingang gelegt und spähte in den Flur.
»Dawn?«, rief sie. »Ist alles in Ordnung? Ich weiß, dass du da bist, ich sehe dich, in der Küche!«
Wills erschrecktes Gesicht brachte Dawn in die Gegenwart zurück. Laut und trotzig rief sie: »Ich komme gleich, Eileen!«
Welche Erleichterung! Was für ein Triumph! Will hätte sie um ein Haar attackiert, und Eileen hätte alles mit angesehen. Sie sah ihm mutig ins Gesicht, stieß seinen Arm weg und marschierte einfach an ihm vorbei. Seine Haut fühlte
sich feucht und kalt an. Er musste sie wohl oder übel gewähren lassen.
Dawn riss die Haustür auf.
»Eileen …«
»Oh, Dawn!« Eileens Stimme zitterte. »Ist es nicht
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