Die sanfte Hand des Todes
schwierigen Situation. Sie benötigte Zeit, um über den Vorfall nachzugrübeln, sich zu überlegen, was dazu geführt hatte, und sich zu fragen, ob sie etwas anders hätte machen können. Diesmal war es jedoch seltsam. Wann immer sie versuchte, sich den Nachmittag noch einmal vor Augen zu führen, wies ihre Erinnerung Lücken auf. Zwar konnte sie sehen, was passiert war, wie sie in
ihrer marineblauen Uniform das Kaliumchlorid in die Spritze aufgezogen hatte. Aber es schien ihr unmöglich, sich in der Rückschau in sich selbst hineinzuversetzen und nachzuvollziehen, was sie gefühlt, was sie angetrieben hatte. Es war, als erinnerte sie die Handlungen einer Fremden.
Keinen Schaden zufügen.
Dawn wälzte sich im Bett herum.
Du hattest keine Wahl , sagte sie zu sich selbst. Keine Wahl! Wieder und wieder ging sie den Tag in Gedanken durch. Sie hatte alles Erdenkliche versucht, um Mrs. Walker zu helfen. Sie hatte ihr die größtmögliche Dosis Morphium verabreicht, sie hatte mit den Ärzten über alternative Behandlungsmethoden diskutiert und versucht, die Familie mit einzubeziehen. Nichts davon hatte funktioniert. Mrs. Walker hatte weiter gelitten – und es wäre noch viel schlimmer geworden. Dawn riet nicht, stellte keine wilden Spekulationen an; sie wusste es einfach. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Dora das Gleiche durchgemacht hatte. Irgendwann waren die Schmerzen so stark geworden, dass ihre Großmutter gesagt hatte: »Ich will sterben.« Auch Mrs. Walker hatte nach dem Tod verlangt. Sie hatte zu Dawn gesagt: »Ich will in den Himmel.« Was hätte Dawn darauf antworten sollen? Hätte sie sagen sollen: »Psst, so meinen Sie das doch gar nicht.« Hätte sie einfach aus dem Zimmer gehen sollen?
Wo würde es aufhören?, hatte Mandy gefragt. Ja, aus gutem Grund gab es Gesetze. Es musste ein Tabu bleiben. Das Eis, auf das sie sich begeben hatte, war viel zu dünn. Jahrelange Berufserfahrung hatte Dawn gelehrt, wie schnell man sich als Krankenhausmitarbeiter an den Tod gewöhnen konnte, wie unglaublich schnell man meinte, sich ein Urteil erlauben zu können, zu wissen, warum jene kranke, alte Person nicht mehr allzu lange leben, ein Bett belegen, an ihrem Vermögen festhalten sollte.
Aber was sah das Gesetz für Menschen wie Mrs. Walker vor?
Dawn faltete die Hände über dem Bauch und starrte zum Schlafzimmerfenster hinüber. Hinter dem dünnen Vorhangstoff leuchteten die Straßenlaternen in einem trüben Orange.
Wenn man für einen anderen Menschen verantwortlich war, musste man gelegentlich eine Entscheidung treffen, und nichts anderes hatte sie getan. Sie hatte entschieden, was für Mrs. Walker das Beste war. Nicht für die Familie, nicht für das Krankenhaus, nicht für sich selbst. Sondern für die Patientin allein. Nein, in diesem Fall konnte man nicht von dünnem Eis sprechen.
Sie entspannte sich. Ihre Glieder wurden schwer. Sie hatte das Richtige getan. Ohne Frage war Mrs. Walker jetzt in Sicherheit und fühlte keine Schmerzen mehr. Dawns Augen fielen zu. Der Regen hatte wieder eingesetzt, er klopfte leise an die Glasscheibe, sanft und angenehm rauschend wie ein Gebirgsbach.
Aus irgendeinem Grund öffnete sie die Augen wieder. Ein Auto war in die Straße eingebogen. Jemand war auf der Suche, hatte es möglicherweise eilig. Zuerst sah Dawn das Licht der Scheinwerfer, das die Vorhänge beleuchtete und über die Zimmerdecke huschte, dann erst hörte sie das Zischen der nassen Reifen auf dem Asphalt.
Wie sich ihre Schultern entspannt, wie die Falten des Schmerzes sich geglättet hatten. Pssst, pssst, gleich wird alles gut. Wie friedlich ihr Gesicht ausgesehen hatte.
Die Kantine des St. Iberius erinnerte an eine Schulmensa. Sie war riesengroß, hatte abgenutzte Holzböden und war mit langen Reihen aus Plastikstühlen und Melamintischen ausgestattet. Ein Spalier aus Kunstpflanzen und ein paar Porzellantöpfe
mit Farnkraut trennten den Personalbereich vom öffentlichen Teil der Cafeteria ab. Um halb eins hatte der Lärmpegel seinen Höhepunkt erreicht: Geschirrklappern, das Scharren von Stuhlbeinen, das Scheppern der Tabletts. Mitarbeiter in Kitteln, deren Farbe ihre Tätigkeit verriet, strömten herein: Stationsschwestern (hellblau), Radiologen (lila), OP-Mitarbeiter (dunkelgrün). Aus den riesigen Stahltöpfen stieg der Duft von indischem Curry und Gulaschsuppe auf.
Dawn legte ein Sandwich auf ihr Tablett und stellte sich in die Schlange. Hinter ihr sagte jemand: »Hallo, Schwester.«
Dawn
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