Die sanfte Hand des Todes
über Gesellschaft«, sagte Dawn. »Sie ist den ganzen Tag allein, wenn ich in der Arbeit bin. Dabei ist sie an Menschen gewöhnt. Es ist keine ideale Lösung, aber im Moment geht es nicht anders.«
Will blickte zur Seite. Er wirkte nachdenklich, schien etwas auf dem Herzen zu haben.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte er.
»Etwas außerhalb von Croydon. Warum?«
»Ich wohne in Streatham.« Er zögerte. »Hör mal, wenn du möchtest, kann ich dann und wann mit ihr spazieren gehen.«
»Mit Milly?«
»Ich will mich nicht aufdrängen«, sagte er rasch. »Ich meine ja nur. So, wie ich mit Boris spazieren gehe. In der Stadt einen Hund zu halten ist gar nicht so einfach. Ich gehe gern spazieren, und dein Hund könnte etwas Gesellschaft gebrauchen.
Wäre doch praktisch.« Sein kantiges Gesicht war rot angelaufen; vielleicht lag es aber auch nur am Widerschein seines kastanienbraunen Hemds.
»Ja, natürlich«, versuchte Dawn ihn zu beruhigen. »Ich weiß genau, wie du es meinst.« Milly und Boris beschnupperten einander unter dem Tisch. »Hör mal«, sagte sie, »warum gibst du mir nicht einfach deine Telefonnummer? Ich weiß noch nicht, wie ich das in Zukunft regeln werde, aber so kann ich mich gegebenenfalls bei dir melden.«
Will durchsuchte seine Taschen nach einem Stift. Dawn zog einen aus ihrer Handtasche und reichte ihn Will, zusammen mit einer sauberen Serviette aus dem Spender. Will kritzelte darauf herum. Dawn konnte die Hieroglyphen kaum entziffern: Will Coombs , dazu eine Telefonnummer.
Sie lächelte ihn an, und er schob ihr die Serviette zu. »Danke«, sagte sie. »Das ist ein sehr nettes Angebot. Ich werde darüber nachdenken.«
Will lächelte erleichtert.
Er stand schon an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte.
»Was du da eben gemacht hast …«, sagte er, ohne Dawn in die Augen zu blicken. »Du hast dem Jungen das Leben gerettet. Du kannst stolz auf dich sein.«
Und dann war er verschwunden. Die Tür fiel mit einem blechernen Scheppern der Glocke zu. Nun, da Will und Boris gegangen waren, wirkte das Café gleich viel größer. Draußen auf der Straße spiegelten sich die roten und weißen Markisen der Geschäfte im nass glänzenden Asphalt. Die Sonne tauchte die bunten Gemüsestände in gleißend helles Licht. Boris hob sich als scharf umrandete Silhouette von der glitzernden Straße ab und zog Will an der Leine hinter sich her. Der folgte geduldig, stieg sogar über eine Pfütze und wartete, wartete in aller Seelenruhe, bis der Hund genug geschnüffelt
hatte. Wills Gang wirkte ein bisschen schief, so als humpelte er oder als wäre er verletzt. Vielleicht war es aber auch nur die Unbeholfenheit eines zu großen, zu schüchternen Mannes.
Du hast dem Jungen das Leben gerettet. Du kannst stolz auf dich sein.
Die Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster auf den Tisch, das Milchkännchen, das blau-weiß gemusterte Tischtuch.
Sie hatte dem Jungen tatsächlich das Leben gerettet. Sie hatte über keine Hilfsmittel verfügt, und der panische Vater hatte ihr das leblose Kind einfach in die Arme gedrückt. Aber sie war mit der Situation fertiggeworden. Im Grunde hatte sie lediglich Erste Hilfe geleistet. Das war keine große Kunst, dazu brauchte man nicht einmal eine ausgebildete Krankenschwester zu sein. Aber im Moment der Krise, als es darauf ankam, hatten ihre Ausbildung und Erfahrung sie nicht im Stich gelassen.
Sie war tatsächlich eine gute Krankenschwester. Aber mehr auch nicht. Sie war nicht Gott.
Millys dunkle Nase stupste an Dawns Knie. Leise flüsterte sie dem Hund zu: »Wir bringen niemanden mehr um, nicht wahr, Milly?«
Das Fenster in ihrer Seele war noch nicht ganz geschlossen. Sie sah eine taghelle Landschaft und einen schäumenden Wasserfall, der in einen braunen Fluss hinunterstürzte. Sie saß auf den Schultern ihres Vaters und beobachtete, wie Jock, der Schäferhund ihres Großvaters, aus dem Wasser geklettert kam. Ihre Mutter stand am Kuhgatter und lächelte ihnen zu, während der Wind ihr das lange blonde Haar ins Gesicht wehte.
Kapitel 7
Montag war Operationstag, der hektischste der ganzen Woche. Neben den Aufgaben, die täglich auf der Station anfielen – Patienten waschen, füttern, mit Medikamenten versorgen –, mussten die Kranken vor einem Eingriff gewaschen, rasiert, mit einer korrekten Markierung der betroffenen Körperteile und in der richtigen Reihenfolge zum OP-Saal gebracht werden, zusammen mit allen Laborergebnissen und Röntgenaufnahmen. Montags hatte
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