Die sanfte Hand des Todes
Und wie er ihr ganz offen widersprochen, wie er sie vor dem Personal angegiftet hatte – nein, da
war er zu weit gegangen. Sie war erleichtert gewesen, als er endlich abgezogen war. Sie konnte ihn nicht mehr ertragen.
Als das letzte Laken eingeräumt war, lief Dawn in den Fäkalienraum und holte den Nachtstuhl.
»Guten Morgen, Mr. Price.« Sie stellte den Nachtstuhl neben das Bett und trat auf die Feststellbremse. »Was macht Ihre Hüfte?«
»Immer noch steif, Schwester. Aber es wird besser.«
»Das ist gut.« Sie hievte Mr. Price aus dem Bett und auf den Stuhl. Später rollte sie den Nachtstuhl zurück in den Fäkalienraum. In Gedanken war sie immer noch bei Clive.
In ihrer ganzen Zeit im Krankenhaus hatte sie noch nie jemanden feuern müssen. Der Schritt kam ihr riesengroß vor. Was, wenn Clive für sein Verhalten einen Grund gehabt hatte? Vielleicht war er an jenem Morgen ja besonders gestresst gewesen. Vielleicht hatte er private Probleme, über die er mit niemandem reden konnte. Vor schlechten Tagen war keiner gefeit.
Dawn schüttelte den Kopf und reinigte die Bettpfanne in der langen stählernen Waschwanne. Jeder stand unter Stress, das kam einfach vor. Aber nicht jeder verachtete die Patienten, und nicht jeder reagierte sich an ihnen ab. Misshandelte sie. Und wenn man dazu tendierte, seinen Frust an kranken, schutzlosen Menschen auszulassen, sollte man nicht in einem Pflegeberuf arbeiten. So einfach war das.
Sie stellte die Bettpfanne in die Spülmaschine und schaltete sie ein. Das große Gerät brummte und bebte. Dawn seufzte. Sie wusste, wo das eigentliche Problem lag. Sie sträubte sich davor, jenen Tag im Detail noch einmal durchzugehen. Sie stellte sich vor, wie das Disziplinarverfahren ablaufen würde. Die Personaler, Clive – im Anzug – und ein Gewerkschaftsvertreter würden am großen Konferenztisch der Klinikleitung sitzen und an ihren Wassergläsern nippen.
»Schwester, wenn Sie die Ereignisse nun bitte noch einmal schildern würden. Wie war Mrs. Walkers Zustand an jenem Morgen? Hat sie sich über Mr. Green beschwert? Was hat sie gesagt, als Sie sich später mit ihr unterhielten?«
Nein. Sie war nicht bereit, das über sich ergehen zu lassen.
Offenbar machte auch Clive sich Gedanken. Heute war er zum ersten Mal seit dem Zwischenfall wieder da, und er hatte sich den ganzen Vormittag über sehr bedeckt gehalten. Er war Dawn aus dem Weg gegangen und hatte mehr Zeit mit den Patienten verbracht als üblich. Nun, da die Operationen geschafft waren und Ruhe einkehrte, fiel ihr auf, dass sie den ganzen Tag noch nicht mit ihm geredet hatte.
»Haben Sie Clive irgendwo gesehen?«, fragte sie Mandy, die mit dem Medikamentenwagen vorbeirumpelte.
Mandy blieb stehen.
»Ja, vor einer Minute«, antwortete sie. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, dann flüsterte sie: »Er ist ganz schön still heute, nicht? Wenn Sie mich fragen, hat er ein schlechtes Gewissen.«
»Wegen Donnerstag?«
»Ja, klar. Meinen Sie nicht? Immerhin, die alte Dame ist, ein paar Stunden nachdem er bei ihr war, gestorben. Was glauben Sie, wie fest er ihren Kopf gegen das Metallgitter geschlagen hat?«
Nachdenklich legte Mandy sich einen Finger ans Kinn. Dann packte sie ihren Wagen und ging weiter. Dawn blieb wie erstarrt zurück.
Clive sollte für Mrs. Walkers Tod verantwortlich sein? Der Gedanke war ihr nie gekommen. Wieder musste sie an das Disziplinarverfahren denken, das nun aber in einem völlig neuen Licht erschien. »Schwester, Sie können bezeugen, dass Mr. Green die Patientin misshandelt hat? Es geht hier eindeutig um Körperverletzung. Und kurze Zeit später wurde
dieselbe Patientin zur allgemeinen Überraschung tot in ihrem Bett aufgefunden?« Jeder, der eins und eins zusammenzählen konnte, wusste, zu welchem Ergebnis die Kommission kommen würde. Ehe Clive sichs versah, wäre die Polizei eingeschaltet. Am Ende würde man ihn wegen Totschlags vor Gericht stellen.
Schließlich stöberte sie ihn im Lagerraum auf, wo er, höchst ungewöhnlich für ihn, eifrig damit beschäftigt war, die Mülleimer zu leeren. Es sah Clive gar nicht ähnlich, Arbeiten zu übernehmen, die man ihm nicht ausdrücklich aufgetragen hatte. Ganz offensichtlich gab er sich heute besondere Mühe.
»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten«, sagte Dawn, »würde ich gern kurz mit Ihnen reden.«
Clive kniff die Augen zu zwei feindseligen Schlitzen zusammen. Aber er widersprach nicht. Er zog seine Handschuhe aus und folgte Dawn in
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