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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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Dawn keine Minute Zeit für sich, was ihr heute sehr entgegenkam. Am Wochenende hatte sie ihr Bestes versucht, um sich abzulenken. Sie war mit Milly spazieren gegangen, hatte Staub gesaugt und Arbeitszeugnisse geschrieben, aber egal, was sie auch tat, sie hatte immerzu an Mrs. Walker denken müssen. Manchmal hatte sie sich wie gelähmt gefühlt, wie in einem Vakuum gefangen. Wieder zur Arbeit gehen zu können empfand sie als große Erleichterung. Dort war sie zu beschäftigt, um herumzusitzen und zu grübeln. Sie lenkte sich damit ab, Betten für die frisch operierten Patienten vorzubereiten, verstopfte Drainageschläuche zu spülen und Elspeth zu zeigen, wie man einen Patienten an das Dialysegerät anschloss. Und je mehr ihre Aufmerksamkeit von dem hektischen Treiben auf der Station in Anspruch genommen wurde, desto weniger Gelegenheit zum Nachdenken blieb ihr.
    Einmal, sie hatte die Arme voller Bettlaken, fand sie sich vor dem Einzelzimmer wieder. Später am Nachmittag erwarteten sie einen neuen Patienten, einen Teenager, der sich
bei einem Unfall mit einem Gabelstapler das Bein gebrochen hatte, aber noch war das Zimmer unbelegt. Dawn drehte automatisch den Kopf weg. Dann ermahnte sie sich. Das war doch lächerlich. Sobald der neue Patient eintraf, würde sie gezwungen sein, den Raum zu betreten. Es ist nur ein leeres Zimmer, sagte sie sich. Nichts als ein leeres Zimmer.
    Sie zwang sich, stehen zu bleiben und einen Blick hineinzuwerfen. Tatsächlich sah der Raum nicht mehr halb so trist aus wie am Freitag. Das Bett war frisch bezogen, die grüne Matratze von einem sauberen Laken bedeckt und eine Ecke der Decke einladend umgeschlagen. Am Fußende lagen zwei saubere, gefaltete Handtücher. Der Nachttisch war gereinigt, die EKG-Kabel aufgerollt und am Monitor befestigt worden. Am Wochenende hatte das Wetter umgeschlagen, das Sonnenlicht fiel durchs Fenster und ließ das leere Bett erstrahlen. Seltsamerweise sorgte eine Unregelmäßigkeit im Glas dafür, dass mitten auf dem Kissen ein leuchtend gelber Fleck zu sehen war. Die Falten im Kissenbezug warfen einen Schatten in Form einer Nase und eines herabgezogenen Mundes. Ein bleiches, regloses Gesicht mit geschlossenen Augen.
    »Schwester?«
    Vor Schreck ließ Dawn fast die Laken fallen.
    »Schwester!« Ein Mann in beige gestreiftem Morgenmantel winkte ihr von seinem Bett aus zu. »Ich brauche den Nachtstuhl.«
    »Einen Moment, Mr. Price.« Normalerweise teilten Oberschwestern keine Bettpfannen und Nachtstühle aus, aber heute hatten Dawns Mitarbeiter alle Hände voll zu tun. Der alte Mann sollte nicht warten müssen. Dawn ließ zum letzten Mal den Blick durchs Zimmer schweifen. Das Sonnenlicht verlor sich, und das Gesicht auf dem Kissen verblasste zu einem hellen, gespenstischen Fleck.

    Auf dem Weg zur Wäschekammer ging Dawn mit sich ins Gericht. Damit musste jetzt Schluss sein. Gespenstergesichter auf dem Kissen? Wenn sie so weitermachte, würde sie sich und anderen schaden. Was passiert war, war passiert; sie konnte es nicht mehr ändern, auch wenn sie noch so lange darüber nachgrübelte. Sie hatte in dem Glauben gehandelt, das Richtige zu tun. Nicht unbedingt das Korrekte, aber das Richtige. Sie hatte sich geirrt, ja. Aber sosehr sie es sich auch wünschte, sie konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Blick nach vorn , sagte sie sich . Vergiss Mrs. Walker, konzentriere dich auf deine Arbeit. Die anderen Patienten brauchten sie. Sie musste für sie da sein.
    Und noch aus einem anderen Grund musste sie sich zusammenreißen. Sie hatte noch ein zweites Problem, das sie im Gegensatz zu ihren Gedanken an Mrs. Walker nicht einfach verdrängen konnte.
    Clive.
    Den ganzen Morgen über hatte sie sich gefragt, wie sie ihm gegenübertreten sollte. Als Oberschwester konnte sie nicht ignorieren, wie er mit Mrs. Walker umgegangen war. Er hatte die Frau beschimpft und ihren Kopf gegen die Gitterstäbe gestoßen. Der Anblick war abscheulich gewesen. Jedes Mal, wenn Dawn daran dachte, wurde sie von neuer Wut gepackt. Wie viele andere Patienten hatte er so behandelt? Wenn sie ihm sein Verhalten durchgehen ließ, brachte sie möglicherweise andere Menschen in Gefahr.
    In der Wäschekammer war es warm, die Luft roch nach Desinfektionsmittel. Dawn legte die Laken ins Regal. Am einfachsten würde sie mit Clive fertig, wenn sie ein Disziplinarverfahren einleitete und für seine Entlassung sorgte. Warum auch nicht? Sie war mit seiner Arbeit und seiner Einstellung nie zufrieden gewesen.

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