Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
Vom Netzwerk:
Sitzen. Die vom Wetter überraschten Fahrgäste trugen ihre Mäntel über dem Arm. Es war der erste Mai und über Nacht Sommer geworden. Der Wandsworth Common war voller Menschen, die sich die Hosenbeine hochkrempelten und das Gesicht in die Sonne reckten. Im Gras lagen kichernde, händchenhaltende Pärchen.
    Ob es am Wetterumschwung lag oder an der Erleichterung darüber, mit Clive gesprochen zu haben, wusste Dawn nicht, aber die lähmende Trauer, die sie tagelang bedrückt hatte, schien langsam von ihr zu weichen. Während sie den sonnenbeschienenen Park betrachtete, überkam sie so etwas wie eine Erleuchtung. Auf einmal konnte sie deutlich erkennen, wie die Probleme angefangen hatten, wie Mrs. Walkers Unglück seinen Lauf genommen hatte. Sie hatte sich bei der Arbeit schlicht und einfach zu viel zugemutet. Seit sie außerhalb des Krankenhauses keine Aufgaben mehr hatte, tendierte sie dazu, sich maßlos zu überschätzen. Nur deswegen hatte sie die Kontrolle verloren.
    Francine hatte sie gewarnt. Man muss die Dinge im richtigen Maßstab betrachten. Du darfst dein Leben nicht dem Krankenhaus opfern.
    Die Sache war nur, dass die Arbeit Dawn nicht kaltließ. Zunächst einmal hatte sie sich lange auf das Bewerbungsgespräch vorbereiten müssen. Eine leitende Stelle trat man nicht einfach so an. Dawn hatte Weiterbildungskurse besucht, Bücher gelesen, Prüfungen abgelegt. Dann, als sie den Job endlich bekam, hatte sie viele Überstunden gemacht, um in die neue Rolle hineinzuwachsen.
    Und in ihrer Freizeit hatte sie sich natürlich um Dora gekümmert.
    Den ersten Schlaganfall hatte Dora vor drei Jahren erlitten,
an einem windigen Morgen im März. Sie stand im Garten und hängte Wäsche auf, als sich ohne jede Vorwarnung ein Blutgerinnsel in ihrem Hals löste, aufwärts stieg und sich in ihrem Gehirn festsetzte. Ein Nachbar fand sie Stunden später auf dem Rasen liegend. Sie konnte sich weder bewegen noch sprechen.
    Dawn hatte damals in London mit ihrem Freund Kevin zusammengewohnt. Sie war sofort ins Krankenhaus geeilt. Dora verschwand fast in dem riesigen Spezialbett, sah winzig klein und zu Tode verängstigt aus und war nur noch halb so groß, wie Dawn sie in Erinnerung hatte. Die starke, unabhängige Dora, die im Alter von dreiundzwanzig Jahren Witwe geworden war und ihren Sohn allein großgezogen hatte. Dora, die mit über fünfzig noch einmal von vorn angefangen hatte, indem sie ihre verwaiste Enkelin aufnahm. Und nun lag sie in sich zusammengesunken und hilflos in einem Krankenhausbett, mit einem Körper, der ihr den Dienst verweigerte. Ein Mundwinkel hing herunter, Speichel tropfte ihr vom Kinn. Dawn versuchte, ihr Erschrecken zu verbergen. Sie ergriff Doras Hand. Doras Sätze klangen, als hätte ihr jemand ein Geschirrtuch in den Mund gestopft, aber wenn Dawn sich ein bisschen anstrengte, konnte sie ihre Großmutter verstehen.
    »Das wird schon wieder«, sagte Dora immer wieder. »In ein paar Wochen geht es mir besser. Mach dir um mich keine Sorgen.«
    Ein Arzt hatte sich zu ihnen gesetzt, um über Doras Zukunft zu reden.
    »Es tut mir leid, aber der CT-Scan hat gezeigt, welch großen Schaden der Schlaganfall angerichtet hat«, begann er. »Mrs. Torridge mag im Moment noch Fortschritte machen, aber …« Er zögerte. »Leben Sie allein?«
    Er hatte mit Dora gesprochen, sah dabei aber nur Dawn an.

    »Ja«, antwortete Dawn, »sie lebt allein.«
    »Haben Sie jemals daran gedacht, in ein Pflegeheim zu gehen?« Die früher so rüstige, muntere Dora versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen.
    »Gut«, sagte sie. »Falls es nötig ist, werde ich umziehen.«
    Aber Dawn wusste, dass es immer die größte Angst ihrer Großmutter gewesen war, eines Tages ihre Selbständigkeit zu verlieren und in ein Pflegeheim oder ein Krankenhaus umziehen zu müssen. Als der Arzt gegangen war, versuchte Dawn, sie zu trösten. »Wir finden eine Lösung, mach dir keine Sorgen. Du bleibst in der Crocus Road.« Dora, die inzwischen mit den Nerven am Ende war, weinte stumm und versuchte, Dawns Wange zu tätscheln.
    Dawn zog wieder in ihr altes Kinderzimmer in der Crocus Road.
    »Nur für ein paar Wochen«, versicherte sie Kevin. »Nur, bis sie sich wieder eingelebt hat.«
    Es gab viel zu organisieren. Dawn sorgte dafür, dass Dora tagsüber, wenn sie in der Arbeit war, von einem Pflegedienst versorgt wurde. Die Mitarbeiter halfen ihr aus dem Bett und brachten ihr das Mittagessen. Abends übernahm Dawn. Sie fütterte die Großmutter, wusch sie,

Weitere Kostenlose Bücher